Bildbeschreibung
"Das Blaue Pferd I ist mit seiner eindringlichen, vom Reiz des
Neuanfangs verklärten Symbolkraft zu einem der bekanntesten Bilder
Franz Marcs und des 'Blauen Reiters' geworden. Aufgerichtet
und kantig-ungelenk steht ein blaues Fohlen voll jugendlicher Kraft vor
uns, den Kopf wie sinnend zur Seite geneigt. Während in den leicht
gebrochenen Formen seines Leibes Weiss aufscheint, vertieft sich in Hufen
und Mähne dunkelstes Marineblau. Das Bildganze wird beherrscht von
einem Spannungsfeld komplementärer Kontraste, von Zinnoberrot und
Grün unten, über Karminrot und Gelb zu Violett, Blau und Orange
in der oberen Zone. In selten reiner Weise wird hier die Farbtheorie Marcs
anschaulich, die für viele seiner reifen Werke massgeblich ist
und die er im Dezember 1910 August Macke ausführlich in einem Brief
erläutert:"1 "Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb das
weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, brutal
und schwer und stets die Farbe, die von den anderen beiden bekämpft
werden muss! (...) Mit Grün bringst Du das ewig materielle, brutale
Rot nie ganz zur Ruhe ... Dem Grün müssen stets noch einmal
Blau (der Himmel) und Gelb (die Sonne) zu Hilfe kommen, um die Materie
zum Schweigen zu bringen (...)."2
Selbstportrait und Transzendenz
"Yet, the forms of the animal seem almost weightless, somewhat antigravitational,
as if the horse were hovering above the spot on which it appears to be
standing. (...) he has placed the blue fore and hind legs of the horse
upon an area composed solely of shades of deep red an violet, which causes
a visual disturbance among the contrasting colors that has the effect
of pushing the animal upward." (...) "Blue Horse I is also
an image of security, of harmony, an animal assertive both in its stance
and demeanor, and thus quite possibly a projection of the artist's
new confidence in his own abilities and the certainty of his direction."3 "Während, allgemein ausgedrückt, das Tier also einen das
Menschsein transzendierenden Zustand verkörperte, konnte es
zugleich auch den Künstler selbst symbolisieren."4 "Marc treibt die Typisierung hier bis an die Grenze des Ungelenken,
verleiht dem jungen Pferd dadurch einen statuarischen, einfachen und gross
wirkenden Charakter. Gegenüber dem leicht schrägen Stehen des
Pferdes in der Skizze hat Marc in der Ausführung die Gliedmassen
kräftiger gebildet, das Hinterteil auch plastischer, und dadurch
die Schlankheit des Jungtieres kaum merklich ins Monumentale gesteigert."5
Zur Suggestivität der Tierdarstellung
"Der Sachverhalt, den wir hier für
eines der Hauptwerke von Marc eruiert haben (Weidende Pferde IV, 1911),
die Stilisierung des Tierbildes ins Noble, Pathetische und Monumentale
durch Aneignung von Übereinkünften aus dem Bereich des Figurenbildes, gilt nun
nicht nur für diesen einen Fall, sondern hat für Marc konstante
und grundsätzliche Bedeutung."6 Für das ebenfalls 1911 als Ergänzung zum vorliegenden Werk
geschaffene 'Blaue Pferd II', welches das Tier isoliert vor
einer Landschaft, aber in Rückenansicht zeigt, mögen ähnliche
Deutungsaspekte gelten: "Die Bewusstheit der Formgebung
überträgt sich als Ausdrucksqualität auf das Wesen des
Tieres: Das Tier selbst scheint sich bewusst zu geben, es bekommt hier
infolgedessen etwas Personales. Diesen Eindruck verstärkt die Art
seiner Bezugnahme auf die Landschaft, die Ausschliesslichkeit, mit
der sie als meditatives Versunkensein definiert ist." (...)
Daraus erwächst die Aufforderung an die Betrachtenden, "sich in die Gestalt, die er vor sich hat, hineinzuversetzen,
ihre Haltung der Kontemplation nachzuvollziehen, die Welt mit ihren Augen
zu sehen (...): mit den Augen des Pferdes. "Identifikation
heisst demnach, "einzudringen in das Bewusstsein des Tieres".7 Der
zentrale Wirkungsaspekt, der "das weltanschauende Tier
zum Symbol einer Weltanschauung"8 werden
lässt, ist in "der Position an erhöhtem
Ort, das heisst, an einer Stelle, von der aus man das Land überschaut"9,
in diesem Werkauszumachen. "An solcher Stelle
steht man als Herrscher oder als Wächter, auch und bevorzugt in der
Pose, in der sich die Tiere bei Marc präsentieren, wobei die
Spannweite vom Historienbild bis zur politischen Karikatur reicht. Dadurch,
dass die Figur (...) bis an die obere Bildgrenze emporgeschoben ist, wird
uns die erhöhte Position als eine - auch im übertragenen Sinne
- höchste suggeriert."10 "Dieser Tatbestand des Gewohnten im Ungewohnten, des risikolosen
Risikos ist sicher eines der Geheimnisse der eigentümlichen
Suggestivität der Marcschen Bilder: das Auftauchen des Alten an
einem neuen Ort."11
Franz Marc und die Romantik
"Indem er sich eingemeindet, worauf er projiziert ist, das Tier
und die durch sein Symbol kosmisch gedeutete Natur, eröffnet er den
Anspruch seiner Geltung hinaus aufs Universale."12
"Marc wünschte sich seine Tierbilder 'auf die Altäre
der kommenden Religion' 13."14 Während
er zunächst noch annahm, auch in der 'äusseren'
Natur Ursprünglichkeit erkennen zu können, dann in einem zweiten
Schritt den Menschen aus dieser Natur ausklammerte und nur den Tieren
eine dem Menschen verlorengegangene Reinheit zugestand, bekannte
er sich in seinen letzten Lebensjahren zu der Einsicht, dass 'wahre'
Natur ausschliesslich vom Menschen gedacht werden kann. Naturerkenntnis
wird damit - und das ist eine zutiefst romantische Auffassung -
zur reinen Selbsterkenntnis."15 Die
romantische Auffassung "der Sakralisierung des Tierbildes
bei Franz Marc"16,
wonach jegliche Erkenntnis zur Selbsterkenntnis wird, sei
an einem Distichon von Novalis aus dem Mai 1798 verdeutlicht:
"Einem gelang es - er hob den Schleier der Göttin
zu Sais -
Aber was sah er? er sah - Wunder des Wunders - Sich Selbst."17
"Die Parallelitäten lassen sich bis hin zur jeweiligen Farbsymbolik
nachweisen. (...) Die 'blaue Blume' als Symbol unerfüllter
Sehnsucht in Novalis' 'Heinrich von Ofterdingen', die
zum Inbegriff romantischer Weltanschauung schlechthin wurde, (...)
kann hier ebenso angeführt werden."18
1 Annegret Heborg, Bildkommentare,
in: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München, Hg.: Armin Zweite, Ausstell.-Kat.,
Galerie im Lenbachhaus München 1991, Tafel 3, o.S.
2 Hg.: Wolfgang Macke,
August Macke - Franz Marc, Briefwechsel, Köln 1964, S. 28,
zit. ebd., o.S.
3 Frederick S. Levine,
The Apocalyptic Vision, The Art of Franz Marc as German Expressionism,
New York 1979, S. 58.
4 Mark
Rosenthal, Franz Marc, München 1992, S. 18.
5 Christian von Holst,
"... der Hufschlag meiner Pferde", in: Franz Marc -
Pferde, Ausstell.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit 2003,
S. 86 & 92.
6 Johannes Langner, Iphigenie
als Hund: Figurenbild im Tierbild bei Franz Marc, in: Franz Marc 1880-1916, Auss-at. Städtische Galerie im Lenbachhaus München,
München 1980, S. 54.
7 Ebd., S. 56.
8 Ebd., S. 60.
9 Ebd., S. 61.
10 Ebd., S. 61.
11 Ebd., S. 70.
12 Ebd., S. 71.
13 Franz Marc, Schriften,
Hg.: Klaus Lankheit, Köln 1978, S. 143.
14 Johannes Langner,
a.a.O., S. 69.
15 Ebd., S. 104.
16 Untertitel
des Aufsatzes von Johannes Langner, siehe Gemälde "Rehe in der Dämmerung",
Anm. 2.
17 Novalis Werke, Hg.
u. kommentiert: Gerhard Schulz, München 1987 3, S. 34.
18 Carla Schulz-Hoffmann,
Franz Marc und die Romantik, Zur Bedeutung romantischer Denkvorstellungen
in seinen Schriften, in: Franz Marc 1880-1916, Ausstell.-Kat.
Städtische Galerie im Lenbachhaus München, München 1980,
S. 107.
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