Franz Marc (1880-1916)
Der weisse Hund (Hund vor der Welt), 1912, Öl auf Leinwand, 111 x 83 cm, Privatbesitz

Bildbeschreibung
"Wie ein meditierender Philosoph oder Dichter sitzt hier ein weisser Hund auf seinen Hinterbacken und betrachtet aufmerksam eine Urlandschaft, die fast von dem Tier auszustrahlen scheint."1 "Wir berühren hier den zentralen Vorsatz der Kunst von Marc: einzudringen in das Bewusstsein des Tieres."2 "Gibt es für den Künstler eine geheimnisvollere Idee als die, wie sich wohl die Natur in den Augen eines Tieres spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist unsere Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unseren Augen zugehört statt uns in die Seele des Tieres zu versenken, um dessen Bilderkreis zu erraten."3 "Eine solche Versenkung in die Seele eines Hundes hatte Marc mit diesem Bild im Sinn. (...) In schmelzenden Regenbogenfarben gemalt, die ihrerseits durch die jüngste malerische Revolution in Frankreich beeinflusst sind, wird sie zu einem spirituellen Land Oz, wo sich die angedeuteten Stein- und Felsformationen in eine lichterfüllte Traumlandschaft verwandeln. Was die statische, kontemplative Haltung des Hundes anlangt (er sitzt mit halb abgewandten Kopf, damit wir uns in dieses fühlende Wesen leichter hineinversetzen können), so entspricht sie der alten Tradition der deutschen Romantik, einsame, sehnsüchtig und träumerisch in die Betrachtung einer Landschaft versunkene Menschen (noch keine Hunde) darzustellen - man denke etwa an die verbannte Iphigenie bei Feuerbach oder die anonymen Naturliebhaber bei C.D. Friedrich. Und da sich Marc auch eingehend mit der Symbolik der Farben auseinandersetzte, ist das Weiss des Hundes vermutlich ein Sinnbild urchristlicher Reinheit."4

Zur Ikonographie des Figurenbilds in Marcs Tierdarstellung
"Solcher Art ist das Vorhaben, in dessen Dienst Marc den langbewährten, gerade in seiner Ausrichtung auf Transzendenz so suggestiven Identifikations-Sog der Rückenfigur nimmt, ihn vom Menschen auf das Tier umschichtend. Auch den Hund, von dem im vorstehenden Zitat die Rede ist, hat Marc auf diese Weise in Szene gesetzt. Lankheit hat im Blick auf dieses Bild, dessen Titel ursprünglich 'So sieht mein Hund die Welt' lautete, auf eine Äusserung hingewiesen, die Marc auf einem Spaziergang mit seiner Frau und Hund Russi machte. Marc zeigte auf den sitzenden Hund und sagte: 'Ich möchte' mal wissen, was jetzt in dem Hund vorgeht.'5 Diesmal ist das Tier nicht exakt vom Rücken gesehen, sondern in einer Dreiviertelansicht von hinten, der Kopf erscheint im schwindenden Profil. Der Betrachter erhält dadurch ein Teil Einblick in das Gegenüber von Tier und Landschaft, er sieht mit den Augen des Tieres und zugleich ihm über die Schulter. Die Verbindung von Sitzen und schauender Wendung hinein in landschaftliche Ferne, auch sie mit dieser Grundsätzlichkeit und Ausdruckskraft ein Novum in der Gattung des Tierbildes, hat ihren Prototyp in einer der populärsten Bildprägungen des deutschen neunzehnten Jahrhunderts. Klassizistischer Idealismus im geheimen Einverständnis mit der heraufkommenden Gründerzeit, übersetzt Feuerbachs 'Iphigenie' Friedrichs schmales Pathos der Nüchternheit in eine kühle Opulenz. Die Kunst um 1900 in Deutschland ist für diese Prägung von einer geradezu epidemischen Anfälligkeit gewesen. Die Adaptionen, die man beim Durchblättern der Kunstzeitschriften jener Zeit findet, bis hin zur Verdoppelung zum Paar, sind Legion. Dabei wird gern die Konsonanz von Figur und Landschaft gegenüber dem Vorbild noch verstärkt (und damit vergröbert): die sehende Melancholie des verlorenen Profils durch einen Fond von Zypressen amplifiziert, der Blick ans letzte Segment der untergehenden Sonne geheftet. Prinzipiell gleich verfährt Marc in der Direktheit, mit der er die Formationen der Hochgebirgsgegend auf die Silhouette und die in ihr beschriebene psychische Verfassung des Hundes eingehen lässt."6 "Gern rückt Marc das Tier so nahe an den Betrachter heran, dass es vom unteren Bildrand überschnitten wird. Wie die Rückenansicht, und häufig in Verbindung mit ihr, fördert die Verringerung der Distanz die Bereitschaft des Betrachters, sich in Gemeinschaft mit dem Tier zu empfinden, sich in eins mit ihm zu setzen. Das gilt, in je verschiedener Weise, für die Tiergruppe ebenso wie für das einzelne Tier."7 "Gerade durch den Rückgriff auf das anspruchsvolle Figurenbild betont also Marc die Fremdheit des Tieres, seine Unzugänglichkeit in einer dem Menschen fremd bleibenden Welt. Das in die Ferne blickende Tier wird für den Betrachter potenziert zum Sehnsuchtsträger. Mit dem ihm unerreichbar fremden Tier, dem seine Sympathie gilt, sehnt sich der Betrachter nach etwas Ferngelegenem."8

Kunst und Kult: Vom Religiösen zum Geistigen
"In solcher Wesensschau, die das schauende Subjekt mit dem angeschauten Objekt eins werden lässt, wird das Tier für den Menschen zum Ort der Transzendenz." (...) "Was an diesem Ort gestillt wird, ist" 'die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein, nach Befreiung von den Sinnestäuschungen unseres ephemeren Lebens', - "die Sehnsucht, die nach Marc 'die Grundstimmung aller Kunst'9 ist."10 "Der Kunst ist damit letztlich eine religiöse Funktion zugedacht, nämlich die der Erlösung."11 "In Marcs kultischem Konzept von Kunst wird das Tier zum sakralen Objekt. Die Religion, die Marc meint, ist nicht mehr die christliche, aber eine säkularisierte Abformung der christlichen: In ihr tritt, verkürzt beschrieben, an die Stelle des Heiligen Geistes das ,Geistige' und an die Stelle des Erlösers das Tier."12 Im Wechsel vom Figuren- zum Tierbild "bedeutet dieses Projekt einer radikalen Neuorientierung der Kunst die Umkehrung einer Rangfolge. Die Figurenkomposition, als biblische, mythologische, historische oder allegorische Szene, stand bisher in der Hierarchie der Bildgattungen an oberster Stelle. (...) Nicht in ihre Funktion, aber in ihre Position an der Spitze der Hierarchie lässt Marc nun das bisher in einen niederen Rang eingestufte Tierbild durch das Vorhaben aufrücken, es zum primären Medium eines Verstehens zu machen, das nicht mehr die Welt dem Menschen anpasst und unterwirft, sondern den Menschen wieder eingliedert in eine sich selbst zurückerstattete Welt."13 "Es kommt nicht zur erlösenden Aufhebung der Fixierung des Menschen auf sich selbst, sondern zu ihrer erneuten Bestätigung. Es findet nicht die Animalisierung des Betrachters, sondern die Anthropomorphisierung des Tieres statt."14

Der Krieg als Fortsetzung von Kunst?
"In einer fatalen Totalisierung seiner Ideen übertrug Franz Marc seine okkultistischen Gedanken schliesslich auf den Ersten Weltkrieg."15 Wie viele andere Künstler seiner Epoche erhoffte er "sich von diesem Kampf eine totale 'Reinigung' und 'Erneuerung' des Bewusstseins, das die Menschen für die Radikalität ihrer Kunst reifmachen würde. Nicht wenige waren dazu verführt, den Krieg als Fortsetzung des künstlerischen Kampfes anzusehen, der hemmende Traditionen zerstören und geistige Kräfte freisetzen konnte."16

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Robert Rosenblum, Der Hund in der Kunst: vom Rokkoko zur Postmoderne, Wien 1989, S. 77.
2 Johannes Langner, Iphigenie als Hund: Figurenbild im Tierbild bei Franz Marc, in: Franz Marc 1880 - 1916, Ausstell.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München, München 1980, S. 56.
3 Franz Marc, Schriften, Hrsg. v. Klaus Lankheit, Köln 1978, S. 99.
4 Robert Rosenblum, a.a.O., S. 78.
5 Franz Marc, Schriften, a.a.O., S. 11.
6 Johannes Langner, Iphigenie als Hund, a.a.O., S. 56f.
7 Ebd., S. 58.
8 Carla Schulz-Hoffmann, Utopie und Abstraktion: Franz Marc und die Bedeutung romantischer Denkvorstellungen für die Kunst der Moderne, in: Franz Marc: Kräfte der Natur - Werke 1912-1915, Ausstell.-Kat. Staatsgalerie moderner Kunst München, Ostfildern 1993, S. 175.
9 August Macke - Franz Marc, Briefwechsel, Köln 1964, S. 118.
10 Johannes Langner, Iphigenie als Hund, a.a.O., S. 67.
11 Johannes Langner, Iphigenie als Hund, a.a.O., S. 67.
12 Ebd., S. 67.
13 Ebd., S. 68.
14 Ebd., S. 69.
15 Veit Loers, Zwischen den Spalten der Welt - Franz Marcs okkultes Weltbild, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, Hg.: Veit Loers, Ausstell.-Kat. Schirn-Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt 1995, S. 269.
16 Karin von Maur, "...von der Weltanschauung zur Weltdurchschauung", Franz Marc und der Blaue Reiter im Kampf um die Moderne, in: Franz Marc Pferde, Ausstell.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit 2003, S. 207.