Bildelemente und malerische Verfahren
"Die 'Herbstweide' hat Koller in der Zeit zwischen 1865
und 1867 gemalt. Das Bild ist von einem Angehörigen der Schaffhauser
Fabrikantenfamilie Moser bestellt worden, wahrscheinlich von Johann Heinrich
Moser (1805-1874), dem Erbauer der Villa Charlottenfels in Neuhausen.
Das grossformatige Gemälde war bereits 1866 (sic) im Pariser
Salon ausgestellt. (...) Die auf dem vorliegenden Gemälde dargestellten
Menschen und Tiere erscheinen einzelnen oder in Gruppen auch auf anderen
Studien und Bildern Kollers."1
"Wie intensiv sich Koller mit der Gewichtung von Figur und Landschaft
auseinander setzte, zeigt die 'Herbstweide' von 1867 (...),
zu der das Kunsthaus die ausgeführten Studien 'Die Kinder
vom Hasliberg', 1865, 'Zwei kosende Kälblein',
1867, 'Liegende Kuh', 1863, und 'Mutterschaf mit zwei
Jungen', 1866, besitzt."2
Kompositionsprinzip
Rudolf Koller hat sich zum Problem der kompositorischen
Vermittlung der Figuren mit der Landschaft wie folgt geäussert: "Als
Tiermaler kann ich das Landschaftliche nie aus den Studien kopieren, ich
muss total frei damit umgehen. Aber ohne Studie ginge es auch nicht. Die
Umgebung der Tiere ist für mich immer das Schwierigste."3 "Das fertige Bild enthält nicht nur all diese Einzelbilder
als Ingredienzen, sondern verknüpft sie mit einer symbolischen
Anspielung: Der dunkle Himmel und der schwarze Stier sind ein Hinweis
auf das bevorstehende Ende des friedlichen Idylls im Vordergrund -
so meint die 'Umgebung der Tiere', von der Koller spricht,
im übertragenen Sinn mehr als die landschaftliche Kulisse."4 "Besonders auffallend ist die Flächenverteilung: Das steil
ansteigende Gelände füllt etwa drei Viertel des Bildes aus,
und der verbleibende obere Bildrand ist mit Ausnahme der linken Ecke
in dichte Nebelschwaden gehüllt."5
Der Realismus als Stilprinzip
"In [Gottfried] Kellers, auf [Robert] Zünds Landschaften
gemünzten Begriff der 'wahren realen Ideallandschaft oder idealen
Reallandschaft' wird auch Kollers Verbindung von präzisem Naturstudium,
insbesondere des Tieres, und einer nicht das Ideale, sondern das Charakteristische
suchenden Kompositionsweise treffend ausgedrückt."6 Dem
Stilprinzip des Realismus - "der letzte grosse, international
verbindliche Stil, der dem Prinzip des Abbildens folgte" 7
- entspricht bei Koller eine an Variationen reiche Maltechnik8,
deren Wirkungsweise wie folgt umschrieben werden kann: "Im
Gegensatz zu der von Corot ausgehenden Entwicklung in Frankreich,
atmosphärische Stimmungen in vibrierende Farbwerte umzusetzen, blieb
Koller, auch wenn er sich um subtilste tonale Abstufungen bemühte,
stets einer Auffassung verbunden, die den Gegenstand in seiner plastischen
Klarheit beschreibt."9 "Auch sein Spätwerk kennt kaum malerische Auflösungstendenzen,
sondern setzt ganz auf klare Konturierung bis in die hintersten Bildgründe."10 "Nicht
der eigentliche Sehprozess, sondern das genaue Beobachten der Wirklichkeit
wie sie ist, die Naturstudie, stand im Vordergrund."11
Die allegorische Funktion der Tierdarstellung
Die Kunst Kollers "ist auch im Zusammenhang mit übergreifenden
Entwicklungen zu sehen, mit dem Fortschritt in Technologie und Wissenschaft
und der zunehmenden Industrialisierung. Indem sie [Zünd, Koller und
Anker] sich von den gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten
abwandten und Bereiche des Unberührten, Ursprünglichen
aufsuchten, manifestierten sie einerseits Widerstand gegen diese
Entwicklung, andererseits führte sie die Trauer über den Verlust
ganzheitlicher Weltbilder aber auch zu einem ideologischen Rückzug."12 Rudolf
Kollers berühmtestes Werk 'Die Gotthardpost' von
1873 bot wiederholt Anlass, den Symbolgehalt jenseits einer Kritik an
der Verklärung helvetischer Gesellschaftsverhältnisse wahrzunehmen.
Am entschiedensten unterzieht Oskar Bätschmann die Funktionsweise
dieses Gemäldes mit dem Begriff der Allegorie einer Untersuchung,13 indem
er die Frage stellt: "Meint das Bild gar nicht, was
es zeigt?"14 Die
Deutungsebene von Bätschmann gibt auch für die 'Herbstweide'
von 1867 die Möglichkeit, die "Polarität von ästhetischem
Verismus und gedanklichem Idealismus"15 näher
zu fassen. "Wir müssten weiter untersuchen, was denn die
Maler gemacht haben, wenn sie sich mit der Gegenwart beschäftigen
wollten. 'Gegenwart' bedeutete 'Exotik' des Motivs:
Orient, Amerika oder ländliche Exotik. Oder das Exotische wurde hervorgebracht
durch die Transposition des Themas ins Allegorische und Mythologische
- Böcklins Umsetzung des Krieges ist ein Beispiel. Allegorische
Umsetzungen der Gegenwart waren ausschliesslich pessimistisch. (...) Die
Verschränkung von Gegenwart mit Exotischem, Allegorischem war in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein. (...) Gehört
Kollers 'Gotthardpost' zu den pessimistischen Gegenwartsallegorien
wie einige Bilder seines Freundes Böcklin (...)? (...) Kollers Bild
weist in diese Dimension."16 Demnach
widerspiegelt sich die soziale Realität des 19. Jahrhunderts
merkwürdigerweise im Gemälde 'Herbstweide'
über die Widersprüchlichkeit einer ländlichen Idylle, versehen
mit dem Pathos eines schwer zu fassenden helvetischen Begriffs von Heimat,
welcher nur auf den ersten Blick folkloristisch zu sein scheint.
Die Lebensverhältnisse der Gründerzeit entziehen sich einer
bildlichen Veranschaulichung, sind motivisch abwesend, finden aber implizit
Eingang über eine allegorische Darstellung, zu deren Hauptmittel
die Personifikation gehört. Die antagonistische Situierung des Stiers links und des angeschnittenen Baumstamms rechts,
der aufgrund des steil abfallenden Geländes entsprechend höher
gesetzt ist (= Verdeutlichung des Machtgefälles), weist zudem wörtlich
auf die kommenden politischen Auseinandersetzungen zwischen einer sich
organisierenden ArbeiterInnenschaft (= dumpf, animalisch-triebhaft
im Stier gezeigt) und dem Bürgertum (= der Baum der Erkenntnis,
Lebensbaum, Stammbaum etc). hin. Die Tatsache einer sich durch die Industrialisierung
verändernden Lebenswelt wird ebenso als Bedrohung bürgerlicher
Lebensverhältnisse (im Bild idealisiert als Idylle dargestellt)
wahrgenommen, wie die daraus resultierenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Beides ist absichtsvoll nicht Bildthema, hingegen allegorisch anhand von
Bildgegenständen veranschaulicht (landschaftlicher Idylle,
Menschen und Tieren), die den Menschen vertraut sind.
1 Franz Zelger, Stiftung
Oskar Reinhart Winterthur, Bd. 1: Schweizer Maler des 18. und 19. Jahrhunderts.
Zürich 1977, S. 204.
2 Christoph Becker, Rudolf
Koller - Kuh und Mensch, in: Rudolf Koller, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich,
Zürich 2002, S. 17 & 19.
3 Koller an Zünd,
7.11.1867 (Zentralbibliothek Zürich, Nachlass R. Koller 105.6), zit.
Ebd., S. 17.
4 Ebd., S.19.
5 Franz Zelger, a.a.O.,
S. 204.
6 Peter Wegmann, Künstlerbiographie,
in: Von Anker bis Zünd - Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848-1900, Hg.: Christian Klemm, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich,
Zürich 1998, 405.
7 Sibylle Omlin, Kunst
aus der Schweiz Kunstschaffen und Kunstsystem im 19. und 20. Jahrhundert,
Zürich 2002, 40f.
8 Siehe dazu Näheres:
Paul Pfister, Kollers Maltechnik, in: Rudolf Koller, Ausstell.-Kat. Kunsthaus
Zürich, Zürich 2002, S. 34-42.
9 Ebd., S. 405.
10 Peter Wegmann, in:
Biografisches Lexikon der Schweizer Kunst, Hg.: Schweiz. Institut für
Kunstwissenschaft Zürich & Lausanne, 2 Bde., Zürich 1998,
S. 589.
11 Berge, Blicke, Belvedere,
Kunst in der Schweiz von der Aufklärung bis zur Moderne aus dem Aargauer
Kunsthaus Aarau, Ausstell.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Ostfildern-Ruit
1997, S. 43.
12 Ebd., S. 44.
13 Oskar Bätschmann,
Malerei der Neuzeit, Ars Helvetica VI, Die visuelle Kultur der Schweiz,
Hg.: Florens Deuchler, Disentis 1989, S. 184 - 186.
14 Ebd., S. 185.
15 Berge, Blicke, Belvedere,
a.a.O., S. 44.
16 Oskar Bätschmann,
a.a.O., S. 185f.
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