Rudolf Koller (1828-1905)
Herbstweide, 1867, Öl auf Leinwand, 256 x 206 cm, Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur

Bildelemente und malerische Verfahren
"Die 'Herbstweide' hat Koller in der Zeit zwischen 1865 und 1867 gemalt. Das Bild ist von einem Angehörigen der Schaffhauser Fabrikantenfamilie Moser bestellt worden, wahrscheinlich von Johann Heinrich Moser (1805-1874), dem Erbauer der Villa Charlottenfels in Neuhausen. Das grossformatige Gemälde war bereits 1866 (sic) im Pariser Salon ausgestellt. (...) Die auf dem vorliegenden Gemälde dargestellten Menschen und Tiere erscheinen einzelnen oder in Gruppen auch auf anderen Studien und Bildern Kollers."1 "Wie intensiv sich Koller mit der Gewichtung von Figur und Landschaft auseinander setzte, zeigt die 'Herbstweide' von 1867 (...), zu der das Kunsthaus die ausgeführten Studien 'Die Kinder vom Hasliberg', 1865, 'Zwei kosende Kälblein', 1867, 'Liegende Kuh', 1863, und 'Mutterschaf mit zwei Jungen', 1866, besitzt."2

Kompositionsprinzip
Rudolf Koller hat sich zum Problem der kompositorischen Vermittlung der Figuren mit der Landschaft wie folgt geäussert: "Als Tiermaler kann ich das Landschaftliche nie aus den Studien kopieren, ich muss total frei damit umgehen. Aber ohne Studie ginge es auch nicht. Die Umgebung der Tiere ist für mich immer das Schwierigste."3 "Das fertige Bild enthält nicht nur all diese Einzelbilder als Ingredienzen, sondern verknüpft sie mit einer symbolischen Anspielung: Der dunkle Himmel und der schwarze Stier sind ein Hinweis auf das bevorstehende Ende des friedlichen Idylls im Vordergrund - so meint die 'Umgebung der Tiere', von der Koller spricht, im übertragenen Sinn mehr als die landschaftliche Kulisse."4 "Besonders auffallend ist die Flächenverteilung: Das steil ansteigende Gelände füllt etwa drei Viertel des Bildes aus, und der verbleibende obere Bildrand ist mit Ausnahme der linken Ecke in dichte Nebelschwaden gehüllt."5

Der Realismus als Stilprinzip
"In [Gottfried] Kellers, auf [Robert] Zünds Landschaften gemünzten Begriff der 'wahren realen Ideallandschaft oder idealen Reallandschaft' wird auch Kollers Verbindung von präzisem Naturstudium, insbesondere des Tieres, und einer nicht das Ideale, sondern das Charakteristische suchenden Kompositionsweise treffend ausgedrückt."6 Dem Stilprinzip des Realismus - "der letzte grosse, international verbindliche Stil, der dem Prinzip des Abbildens folgte" 7 - entspricht bei Koller eine an Variationen reiche Maltechnik8, deren Wirkungsweise wie folgt umschrieben werden kann: "Im Gegensatz zu der von Corot ausgehenden Entwicklung in Frankreich, atmosphärische Stimmungen in vibrierende Farbwerte umzusetzen, blieb Koller, auch wenn er sich um subtilste tonale Abstufungen bemühte, stets einer Auffassung verbunden, die den Gegenstand in seiner plastischen Klarheit beschreibt."9 "Auch sein Spätwerk kennt kaum malerische Auflösungstendenzen, sondern setzt ganz auf klare Konturierung bis in die hintersten Bildgründe."10 "Nicht der eigentliche Sehprozess, sondern das genaue Beobachten der Wirklichkeit wie sie ist, die Naturstudie, stand im Vordergrund."11

Die allegorische Funktion der Tierdarstellung
Die Kunst Kollers "ist auch im Zusammenhang mit übergreifenden Entwicklungen zu sehen, mit dem Fortschritt in Technologie und Wissenschaft und der zunehmenden Industrialisierung. Indem sie [Zünd, Koller und Anker] sich von den gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten abwandten und Bereiche des Unberührten, Ursprünglichen aufsuchten, manifestierten sie einerseits Widerstand gegen diese Entwicklung, andererseits führte sie die Trauer über den Verlust ganzheitlicher Weltbilder aber auch zu einem ideologischen Rückzug."12 Rudolf Kollers berühmtestes Werk 'Die Gotthardpost' von 1873 bot wiederholt Anlass, den Symbolgehalt jenseits einer Kritik an der Verklärung helvetischer Gesellschaftsverhältnisse wahrzunehmen. Am entschiedensten unterzieht Oskar Bätschmann die Funktionsweise dieses Gemäldes mit dem Begriff der Allegorie einer Untersuchung,13 indem er die Frage stellt: "Meint das Bild gar nicht, was es zeigt?"14 Die Deutungsebene von Bätschmann gibt auch für die 'Herbstweide' von 1867 die Möglichkeit, die "Polarität von ästhetischem Verismus und gedanklichem Idealismus"15 näher zu fassen. "Wir müssten weiter untersuchen, was denn die Maler gemacht haben, wenn sie sich mit der Gegenwart beschäftigen wollten. 'Gegenwart' bedeutete 'Exotik' des Motivs: Orient, Amerika oder ländliche Exotik. Oder das Exotische wurde hervorgebracht durch die Transposition des Themas ins Allegorische und Mythologische - Böcklins Umsetzung des Krieges ist ein Beispiel. Allegorische Umsetzungen der Gegenwart waren ausschliesslich pessimistisch. (...) Die Verschränkung von Gegenwart mit Exotischem, Allegorischem war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein. (...) Gehört Kollers 'Gotthardpost' zu den pessimistischen Gegenwartsallegorien wie einige Bilder seines Freundes Böcklin (...)? (...) Kollers Bild weist in diese Dimension."16 Demnach widerspiegelt sich die soziale Realität des 19. Jahrhunderts merkwürdigerweise im Gemälde 'Herbstweide' über die Widersprüchlichkeit einer ländlichen Idylle, versehen mit dem Pathos eines schwer zu fassenden helvetischen Begriffs von Heimat, welcher nur auf den ersten Blick folkloristisch zu sein scheint. Die Lebensverhältnisse der Gründerzeit entziehen sich einer bildlichen Veranschaulichung, sind motivisch abwesend, finden aber implizit Eingang über eine allegorische Darstellung, zu deren Hauptmittel die Personifikation gehört. Die antagonistische Situierung des Stiers links und des angeschnittenen Baumstamms rechts, der aufgrund des steil abfallenden Geländes entsprechend höher gesetzt ist (= Verdeutlichung des Machtgefälles), weist zudem wörtlich auf die kommenden politischen Auseinandersetzungen zwischen einer sich organisierenden ArbeiterInnenschaft (= dumpf, animalisch-triebhaft im Stier gezeigt) und dem Bürgertum (= der Baum der Erkenntnis, Lebensbaum, Stammbaum etc). hin. Die Tatsache einer sich durch die Industrialisierung verändernden Lebenswelt wird ebenso als Bedrohung bürgerlicher Lebensverhältnisse (im Bild idealisiert als Idylle dargestellt) wahrgenommen, wie die daraus resultierenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Beides ist absichtsvoll nicht Bildthema, hingegen allegorisch anhand von Bildgegenständen veranschaulicht (landschaftlicher Idylle, Menschen und Tieren), die den Menschen vertraut sind.

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Franz Zelger, Stiftung Oskar Reinhart Winterthur, Bd. 1: Schweizer Maler des 18. und 19. Jahrhunderts. Zürich 1977, S. 204.
2 Christoph Becker, Rudolf Koller - Kuh und Mensch, in: Rudolf Koller, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 2002, S. 17 & 19.
3 Koller an Zünd, 7.11.1867 (Zentralbibliothek Zürich, Nachlass R. Koller 105.6), zit. Ebd., S. 17.
4 Ebd., S.19.
5 Franz Zelger, a.a.O., S. 204.
6 Peter Wegmann, Künstlerbiographie, in: Von Anker bis Zünd - Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848-1900, Hg.: Christian Klemm, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1998, 405.
7 Sibylle Omlin, Kunst aus der Schweiz Kunstschaffen und Kunstsystem im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2002, 40f.
8 Siehe dazu Näheres: Paul Pfister, Kollers Maltechnik, in: Rudolf Koller, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 2002, S. 34-42.
9 Ebd., S. 405.
10 Peter Wegmann, in: Biografisches Lexikon der Schweizer Kunst, Hg.: Schweiz. Institut für Kunstwissenschaft Zürich & Lausanne, 2 Bde., Zürich 1998, S. 589.
11 Berge, Blicke, Belvedere, Kunst in der Schweiz von der Aufklärung bis zur Moderne aus dem Aargauer Kunsthaus Aarau, Ausstell.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Ostfildern-Ruit 1997, S. 43.
12 Ebd., S. 44.
13 Oskar Bätschmann, Malerei der Neuzeit, Ars Helvetica VI, Die visuelle Kultur der Schweiz, Hg.: Florens Deuchler, Disentis 1989, S. 184 - 186.
14 Ebd., S. 185.
15 Berge, Blicke, Belvedere, a.a.O., S. 44.
16 Oskar Bätschmann, a.a.O., S. 185f.