Karl Bodmer (1809-1893)
Hirsche im Wald, um 1880, Öl auf Leinwand, 68 x 53,5 cm, Kunsthaus Zürich

Der ethnografische Blick als "Indianermaler"
Bodmers Darstellungen der Lebensweise indigener Völker des nordamerikanischen Westens bilden bis heute wertvolle Zeugnisse einer zerstörten Kultur und leisten als Ausdruck eines relativ vorurteilslosen, wissenschaftlichen und von Respekt getragenen Blickes der Überlegenheitsdoktrin der weissen Eroberer kaum Vorschub.1 Die Ausgangslage für Bodmers Werk als "Indianer-Maler", die in die Bildsprache des Werks 'Hirsche im Wald' eingegangen ist, lässt sich treffend wie folgt umschreiben: "Maximilian's main object was the scientific observation and description of America's fauna, flora, and native peoples, and Bodmer was employed by Maximilian to produce the visual documentation for this work. Maximilian's scientific purpose and Enlightenment view of mankind, including his respect for non-European peoples and their cultures, not only determined Bodmer's choice of subjects but also the realism with which he recorded them."2 Im vorliegenden, erst 1880 entstandenen Bild, wird eine für uns vertraute Szene gezeigt, die Bodmers Nordamerikaerfahrung der 30-er Jahre mit dem Realismus des 19. Jahrhunderts verbindet. Bodmer vermisst "die amerikanische Wildnis schmerzlich. Die Wälder von Fontainebleau sind dafür nur ein bescheidener Ersatz."3 Den Künstlern der Malerkolonie von Barbizon, denen sich Bodmer nach 1848 anschloss, ging es darum, "die Natur in ihrer Ursprünglichkeit zu zeigen".4 "The wildest forest landscapes that Maximilian and Bodmer encountered during their travels are along the banks of Fox and Wabash rivers, where they spent hours exploring, observing, hunting, and collecting (...). The forest there was unlike anything in Europe; it was the landscape the two men had come to America to see and to record. Both the writer and the artist delighted in the abundance of flora and fauna and the tangled density of primeval growth."5

Im Spannungsfeld von Realismus und Symbolismus
Das Gemälde 'Hirsche im Wald' folgt den konventionellen Kompositionsprinzipien der Landschaftsmalerei, die Bodmer auf den Forschungsreisen in Nordamerika schon angewandt hatte. Allerdings "the scenes are wild and exotic from a European point of view. The scientific purpose and activities of Maximilian's expedition placed a premium on accurate obervation rather than picturesque composition or Romantic sanctification of the American landscape."6 Im vorliegenden Werk nehmen die mit wissenschaftlicher Akribie gemalten Äste der Bäume fast die halbe Bildfläche ein, während die Stämme links und rechts dem Hauptmotiv der Hirsche als Rahmen dienen. Der dominierende, mit einem Geweih versehene Hirsch und die Herde sind wie Heilige in ein göttliches Licht getaucht. Dem Attribut des Heiligen ist im Bild die Ferne durch das Licht als etwas Ursprüngliches unterlegt, als würden die Hirsche wie aus einer andern, nicht mehr abbildbaren, weil zerstörten Welt entstammen. Sears hebt anhand des Landschaftsbilds 'In the woods' von Asher Durand aus dem Jahre 1855 den Unterschied zu Bodmers Malerei hervor. Die 'Hirsche im Wald' von 1880 weisen bezüglich Effekt eine hohe Übereinstimmung und Verwandtschaft zu Durands Bild von 1855 auf: "But the forest interior he has created is a sanctuary of divine creation. The trees over-arch with an openness and order that form a cathedral-like space. Windows of sky above and in the distance admit a religious light which gleams on the trunks of the standing and fallen trees. Durand's forest interior appears ancient, like the monuments of European architecture, not raw and chaotic like nature itself. (...) Bodmer does not shape the forest into architecture or load it with religious reverberations. He does not sanctify it."7 Wie ist der Unterschied von Bodmers Landschaftsbildern der 30-er Jahre zu Durand und dann die spätere Übereinstimmung um 1880 - abgesehen von der romantischen Umhüllung des Zentralmotivs in einen Nebel-Licht-Schleier - zu erklären? Mir scheint, dass die poetische und religiöse Romantisierung der Hirsche inmitten dieser Waldlandschaft etwas mit jener leisen Trauer zu tun hat, die den Verlust der amerikanischen Wildnis und der darin lebenden Indianer und Tiere beklagt. In diesem Zusammenhang mag das krass disproportionale Grössenverhältnis der Hirsche zur Waldlandschaft ein wörtlicher wie auch symbolischer Hinweis bezüglich dessen sein, was alles gegen Ende des 19. Jahrhunderts an realen Lebenszusammenhängen wie auch an Ideenwelten am Schwinden begriffen ist. Gleichzeitig klingt die Haltung des Symbolismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts an, der "als Protest gegen den naturalistischen Lebensentwurf und die Materialisierung und Mechanisierung des Daseins" (...) ein "mögliches Ausdruckssymbol des inneren Lebens"8 auch für die Malerei postulierte.

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Biografie und Werdegang Bodmers ist aufgearbeitet in: Hans Läng, Indianer waren meine Freunde, Leben und Werk Karl Bodmers 1809 - 1893, Bern & Stuttgart 1976. Zur Problematik der Einwanderung siehe auch: Far West - Indianer und Siedler im Amerikanischen Westen, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1976.
2 John F. Sears, Karl Bodmer's Eastern Views, in: Karl Bodmer's Eastern Views - A Journey in North America, Hg.: Marsha V. Gallagher, Ausstell.-Kat. Joslyn Art Museum, Omaha, Nebraska 1996, S. 42.
3 Hans Läng, Biografisches Lexikon der Schweizer Kunst, hg. vom Schweiz. Institut für Kunstwissenschaft Zürich & Lausanne, 2 Bde., Zürich 1998, S. 128.
4 Ebd., S. 128.
5 John F. Sears, Karl Bodmer's Eastern Views, a.a.O., S. 54.
6 Ebd., S. 55.
7 Ebd., S. 56.
8 Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert - Eine Entwicklungsgeschichte, München 1987 7, S. 42.