Kompositionsprinzipien
"Recht besehen aber hat sie sich immer wieder mit der Frage
auseinandergesetzt, wie verschiedene Bildelemente in ein Spannungsverhältnis
zueinander und in einen kompositionellen Ausgleich innerhalb von
Bildfläche und Bildraum zu bringen wären. (...) Szenisches Geschehen,
grosse Begebenheit, Handlung waren nicht das, was sie in ihrer Kunst suchte,
wohl aber die Vergegenwärtigung von Kräften im Schildern
von reiner Zuständlichkeit. (...) Und selbst im Bruchstück (...)
der 'Katze in einem Kinderarm' geht es um das Auswägen
von Gewichten der Form und des Themas."1
"Ihre Suche nach dem Gesetz- und Wesenmässigen des Lebens äusserte
sich formal in Mass, Proportion und Harmonie der bildnerischen Gesamtorganisation."2
"Mit sehr schlichten Chiffren oder Worten gab sie zeichnend
und schreibend von ihren visuellen Begegnungen Kunde, (...) um den Blick
frei zu geben auf die grundsätzliche Fremdheit der menschlichen Existenz."3
"Dieses Finden der 'Schatten', die nach einem Wort von
Edward Munch jetzt 'an der Reihe' seien, vollzog sich bei
ihr ohne Gewalt, unspektakulär - leise. Sie entblösst
nicht, wo sie den Blick öffnet, sie zerrt nicht ans Licht. Alles
'Exhibitionistische' ist ihrer Kunst fremd."4
Kunstgeschichtliche Quellen
"Um das Unverwechselbare, das durchaus Eigene und damit den
besonderen Rang ihres Werks zu erkennen, ist es nötig, die Quellen
genau zu benennen, aus denen die in höherem Sinne bis zuletzt Lernende
geschöpft hat"5 (...):
Die Alten Meister, die Französische Malerei des 19. Jahrhundert,
Rembrandt, die antike Skulptur und die Mumienbildnisse u.a. "Cézanne,
Gauguin, van Gogh - in dieser Reihenfolge zeitlich und inhaltlich
- hat Paula Modersohn die drei wichtigsten 'Malerkräfte'
wahrgenommen und in ihr Werk eindringen lassen, die auf je verschiedene
Weise den formauflösenden Tendenzen des Freilichtimpressionismus
entgegentreten."6 "Wo
Cézanne durch seine 'Modulation' der Farbe dieser
eine unvergleichliche Immaterialität verleiht, sucht Paula Modersohn
im Gegensatz hierzu deren besondere Materialität, so dass (...)
allen Dingen etwas Erdhaftes, etwas vom Urstoff der Schöpfung, eigen
ist."7 "Der Linie als
emotionaler und dekorativer, aber auch Mass und Proportion unterstützender
Kraft wird eine dominierende Bedeutung verliehen - ein Merkmal,
das auch allgemein unter dem Zeichen des europäischen Jugendstils
stand."8 "Die Flächenhaftigkeit,
die Monumentalität und die knappen Ausschnitte ihrer Figurenbildnisse
sind dagegen von Anfang an ihre eigenen typischen Merkmale gewesen.
(...) In der klar umrissenen, freien Komposition zeigt sich die endgültige
vom Illusionismus der Naturanschauung und die Befreiung der Farbe von
der Wirklichkeit."9 "Durchgängige
Simplizität in der bildlichen Diktion verhindert ein Abgleiten ins
Anekdotische oder gar Süssliche, wie es bei dem liebreizenden Bildthema
eigentlich nahegelegen hätte. - Gemütsausdruck, doch
in betont spröder Art (...)."10
"Vielmehr geht es um die Verkörperung anonymer menschlicher
Befindlichkeit."11
Psychologische Deutungsmuster
"Während die Bilder der Impressionisten letztlich als Sinnbilder
der des rasch eingefangenen flüchtigen Augenblicks, also des
schnell Vergänglichen zu verstehen sind, so bedeuten die Gemälde
Paula Modersohn-Beckers eher Gleichnisse für das Bleibende, das ewig
in der Natur Waltende. (...) Doch fehlt ihren Bildern insgesamt das Spiritualistische,
Ekstatische oder oberflächlich Dämonisierende, wie es für
viele Künstler ihrer Epoche charakteristisch ist. Ihr geht es mehr
um das tiefe, stille Empfinden für das Mysterium des Daseins."12
"Nach C.G. Jung sind Symbole stets bipolar, das heisst, sie vereinigen
in sich immer Gegensätze. Auf Paula Modersohns Bildwelt bezogen könnte
man folgende ambivalente Themenkreise herausstellen: Geburt und Tod, Vergänglichkeit
und Ewigkeit, Geborgenheit und Ausgeliefertsein, Fruchtbarkeit und
Verfall, Rationales und Irrationales."13
Das Kind als Metapher und die Geste des Umarmens
"Paula Modersohn-Becker malte die von ihr porträtierten
Kinder in einer grossartigen Allgemeingültigkeit und Ursprünglichkeit,
wie man sie zuvor nie gesehen hatte. Die junge Künstlerin wandte
sich mutig von der seit der deutschen Romantik üblichen genrehaften
Wiedergabe von Kindern ab. (...) Diese Kinder wurden aus dem tradierten
Bereich des Mythologischen, Religiösen und Anekdotischen in eine
Sphäre des Naturhaft-Kreatürlichen versetzt."14
"Solche ins Gleichnishafte erhobene Merkmale sind: der Verzicht
auf herkömmliche kindliche Attribute, häufig auch der Kleidung;
statt dessen dekorativ-symbolische Beigaben von Ketten, Kränzen,
Pflanzen und Tieren; schliesslich die Betonung der schützenden und
bewahrenden Gestik und die Vorliebe für das Verschränken von
Armen und Händen. (...) Die Momente des Geschlossen und Kreisenden,
des Runden als Symbol für die Ganzheitlichkeit der menschlichen
Psyche sind mit das herausragendste Stilelement in ihren Kinderbildern."15
"Dem ursprünglich weiblichen Trieb der Fürsorge begegnet
man immer wieder in den Kinderbildnissen der Malerin. In zahlreichen
Darstellungen von Mutter und Kind, von Geschwistern oder Kindern mit Tieren
wird der Geste des Umschliessens, des Festhaltens und Umarmens eine besondere
Bedeutung beigemessen."16
Die Katze im vorliegenden Werk evoziert "(...) durch ihre Nahansicht
und Isolation (...) einen unmittelbaren, fast suggestiven Eindruck.""Tiere,
Bäume, Blumen und Früchte als Metaphern für Wachstum, für
Fruchtbarkeit und für die naturhafte, soeben erst knospende Welt
des Kindes17, ersetzen
jede anekdotische Schilderung."18
Feministische Kritik
"Die Paula Modersohn-Becker unterstellte Form unbewusster
Neuschöpfung, die eine 'Wesenseinheit' des weiblichen
Körpers zu seinem Urgrund erklärt, setzt die Künstlerin
und ihre künstlerischen Produkte in ein endloses Bestätigungsverhältnis
und lässt so die Künstlerin selbst zum Ausgangspunkt und Produkt
von 'Natur' und Kunst werden. Ein solchermassen beschriebener
Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Künstlerin und ihrem
Werk steht im polaren Verhältnis zu der Auffassung des Künstlers
(...), der mit Hilfe seines Geistes die 'Natur' zu überwinden
sucht."19
1 Günter Busch,
Zum Werk von Paula Modersohn-Becker, Hg.: Paula Modersohn-Becker-Stiftung
Bremen, Bremen 1996, S. 132.
2 Ebd., S. 10.
3 Günter Busch, Einführung
in das Werk von Paula Modersohn-Becker, in: Werkverzeichnis der Gemälde,
Bd. I & II, Hg.: Günter Busch & Wolfgang Werner im Auftrag
der Paula Modersohn-Becker-Stiftung, München 1998, S. 20.
4 Günter Busch,
Zum Werk von Paula Modersohn-Becker, a.a.O., S. 91.
5 Günter Busch,
Einführung in das Werk von Paula Modersohn-Becker, a.a.O., S. 8.
6 Günter Busch,
Ebd., S. 23.
7 Günter Busch,
Paula Modersohn-Becker: Malerin - Zeichnerin, Frankfurt a/Main 1981,
S. 36.
8 Christa Murken-Altrogge,
Paul Modersohn-Becker, Leben und Werk, Köln 1980, S. 104.
9 Ebd., S. 106.
10 Günter Busch,
Zum Werk von Paula Modersohn-Becker, a.a.O., S. 91.
11 Ebd., S. 92.
12 Christa Murken-Altrogge,
Paul Modersohn-Becker, Leben und Werk, a.a.O., S. 113.
13 Ebd., S. 115.
14 Christa Murken-Altrogge,
Einführung und Bildauswahl, Paula Modersohn-Becker - Kinderbildnisse,
München 1977, S. 6.
15 Ebd., S. 50.
16 Ebd., S. 56.
17 Ebd., S. 58.
18 Ebd., S. 59.
19 Reinhild Feldhaus,
Geburt und Tod in Künstlerinnen-Viten der Moderne, Zur Rezeption
von Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo und Eva Hesse, in: Mythen von
Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Beiträge der 6.
Kunsthistorikerinnen-Tagung Tübingen 1996, Hg.: Kathrin Hoffmann-Curtius
& Silke Wenk, Marburg 1997, S. 76f.
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