Paula Modersohn-Becker (1876-1907)
Kind mit Katze im Arm, um 1903, Öl auf Leinwand, 32,5 x 25,6 cm, Kunsthalle Bremen

Kompositionsprinzipien
"Recht besehen aber hat sie sich immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie verschiedene Bildelemente in ein Spannungsverhältnis zueinander und in einen kompositionellen Ausgleich innerhalb von Bildfläche und Bildraum zu bringen wären. (...) Szenisches Geschehen, grosse Begebenheit, Handlung waren nicht das, was sie in ihrer Kunst suchte, wohl aber die Vergegenwärtigung von Kräften im Schildern von reiner Zuständlichkeit. (...) Und selbst im Bruchstück (...) der 'Katze in einem Kinderarm' geht es um das Auswägen von Gewichten der Form und des Themas."1 "Ihre Suche nach dem Gesetz- und Wesenmässigen des Lebens äusserte sich formal in Mass, Proportion und Harmonie der bildnerischen Gesamtorganisation."2 "Mit sehr schlichten Chiffren oder Worten gab sie zeichnend und schreibend von ihren visuellen Begegnungen Kunde, (...) um den Blick frei zu geben auf die grundsätzliche Fremdheit der menschlichen Existenz."3 "Dieses Finden der 'Schatten', die nach einem Wort von Edward Munch jetzt 'an der Reihe' seien, vollzog sich bei ihr ohne Gewalt, unspektakulär - leise. Sie entblösst nicht, wo sie den Blick öffnet, sie zerrt nicht ans Licht. Alles 'Exhibitionistische' ist ihrer Kunst fremd."4

Kunstgeschichtliche Quellen
"Um das Unverwechselbare, das durchaus Eigene und damit den besonderen Rang ihres Werks zu erkennen, ist es nötig, die Quellen genau zu benennen, aus denen die in höherem Sinne bis zuletzt Lernende geschöpft hat"5 (...): Die Alten Meister, die Französische Malerei des 19. Jahrhundert, Rembrandt, die antike Skulptur und die Mumienbildnisse u.a. "Cézanne, Gauguin, van Gogh - in dieser Reihenfolge zeitlich und inhaltlich - hat Paula Modersohn die drei wichtigsten 'Malerkräfte' wahrgenommen und in ihr Werk eindringen lassen, die auf je verschiedene Weise den formauflösenden Tendenzen des Freilichtimpressionismus entgegentreten."6 "Wo Cézanne durch seine 'Modulation' der Farbe dieser eine unvergleichliche Immaterialität verleiht, sucht Paula Modersohn im Gegensatz hierzu deren besondere Materialität, so dass (...) allen Dingen etwas Erdhaftes, etwas vom Urstoff der Schöpfung, eigen ist."7 "Der Linie als emotionaler und dekorativer, aber auch Mass und Proportion unterstützender Kraft wird eine dominierende Bedeutung verliehen - ein Merkmal, das auch allgemein unter dem Zeichen des europäischen Jugendstils stand."8 "Die Flächenhaftigkeit, die Monumentalität und die knappen Ausschnitte ihrer Figurenbildnisse sind dagegen von Anfang an ihre eigenen typischen Merkmale gewesen. (...) In der klar umrissenen, freien Komposition zeigt sich die endgültige vom Illusionismus der Naturanschauung und die Befreiung der Farbe von der Wirklichkeit."9 "Durchgängige Simplizität in der bildlichen Diktion verhindert ein Abgleiten ins Anekdotische oder gar Süssliche, wie es bei dem liebreizenden Bildthema eigentlich nahegelegen hätte. - Gemütsausdruck, doch in betont spröder Art (...)."10 "Vielmehr geht es um die Verkörperung anonymer menschlicher Befindlichkeit."11

Psychologische Deutungsmuster
"Während die Bilder der Impressionisten letztlich als Sinnbilder der des rasch eingefangenen flüchtigen Augenblicks, also des schnell Vergänglichen zu verstehen sind, so bedeuten die Gemälde Paula Modersohn-Beckers eher Gleichnisse für das Bleibende, das ewig in der Natur Waltende. (...) Doch fehlt ihren Bildern insgesamt das Spiritualistische, Ekstatische oder oberflächlich Dämonisierende, wie es für viele Künstler ihrer Epoche charakteristisch ist. Ihr geht es mehr um das tiefe, stille Empfinden für das Mysterium des Daseins."12 "Nach C.G. Jung sind Symbole stets bipolar, das heisst, sie vereinigen in sich immer Gegensätze. Auf Paula Modersohns Bildwelt bezogen könnte man folgende ambivalente Themenkreise herausstellen: Geburt und Tod, Vergänglichkeit und Ewigkeit, Geborgenheit und Ausgeliefertsein, Fruchtbarkeit und Verfall, Rationales und Irrationales."13

Das Kind als Metapher und die Geste des Umarmens
"Paula Modersohn-Becker malte die von ihr porträtierten Kinder in einer grossartigen Allgemeingültigkeit und Ursprünglichkeit, wie man sie zuvor nie gesehen hatte. Die junge Künstlerin wandte sich mutig von der seit der deutschen Romantik üblichen genrehaften Wiedergabe von Kindern ab. (...) Diese Kinder wurden aus dem tradierten Bereich des Mythologischen, Religiösen und Anekdotischen in eine Sphäre des Naturhaft-Kreatürlichen versetzt."14 "Solche ins Gleichnishafte erhobene Merkmale sind: der Verzicht auf herkömmliche kindliche Attribute, häufig auch der Kleidung; statt dessen dekorativ-symbolische Beigaben von Ketten, Kränzen, Pflanzen und Tieren; schliesslich die Betonung der schützenden und bewahrenden Gestik und die Vorliebe für das Verschränken von Armen und Händen. (...) Die Momente des Geschlossen und Kreisenden, des Runden als Symbol für die Ganzheitlichkeit der menschlichen Psyche sind mit das herausragendste Stilelement in ihren Kinderbildern."15 "Dem ursprünglich weiblichen Trieb der Fürsorge begegnet man immer wieder in den Kinderbildnissen der Malerin. In zahlreichen Darstellungen von Mutter und Kind, von Geschwistern oder Kindern mit Tieren wird der Geste des Umschliessens, des Festhaltens und Umarmens eine besondere Bedeutung beigemessen."16 Die Katze im vorliegenden Werk evoziert "(...) durch ihre Nahansicht und Isolation (...) einen unmittelbaren, fast suggestiven Eindruck.""Tiere, Bäume, Blumen und Früchte als Metaphern für Wachstum, für Fruchtbarkeit und für die naturhafte, soeben erst knospende Welt des Kindes17, ersetzen jede anekdotische Schilderung."18

Feministische Kritik
"Die Paula Modersohn-Becker unterstellte Form unbewusster Neuschöpfung, die eine 'Wesenseinheit' des weiblichen Körpers zu seinem Urgrund erklärt, setzt die Künstlerin und ihre künstlerischen Produkte in ein endloses Bestätigungsverhältnis und lässt so die Künstlerin selbst zum Ausgangspunkt und Produkt von 'Natur' und Kunst werden. Ein solchermassen beschriebener Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Künstlerin und ihrem Werk steht im polaren Verhältnis zu der Auffassung des Künstlers (...), der mit Hilfe seines Geistes die 'Natur' zu überwinden sucht."19

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Günter Busch, Zum Werk von Paula Modersohn-Becker, Hg.: Paula Modersohn-Becker-Stiftung Bremen, Bremen 1996, S. 132.
2 Ebd., S. 10.
3 Günter Busch, Einführung in das Werk von Paula Modersohn-Becker, in: Werkverzeichnis der Gemälde, Bd. I & II, Hg.: Günter Busch & Wolfgang Werner im Auftrag der Paula Modersohn-Becker-Stiftung, München 1998, S. 20.
4 Günter Busch, Zum Werk von Paula Modersohn-Becker, a.a.O., S. 91.
5 Günter Busch, Einführung in das Werk von Paula Modersohn-Becker, a.a.O., S. 8.
6 Günter Busch, Ebd., S. 23.
7 Günter Busch, Paula Modersohn-Becker: Malerin - Zeichnerin, Frankfurt a/Main 1981, S. 36.
8 Christa Murken-Altrogge, Paul Modersohn-Becker, Leben und Werk, Köln 1980, S. 104.
9 Ebd., S. 106.
10 Günter Busch, Zum Werk von Paula Modersohn-Becker, a.a.O., S. 91.
11 Ebd., S. 92.
12 Christa Murken-Altrogge, Paul Modersohn-Becker, Leben und Werk, a.a.O., S. 113.
13 Ebd., S. 115.
14 Christa Murken-Altrogge, Einführung und Bildauswahl, Paula Modersohn-Becker - Kinderbildnisse, München 1977, S. 6.
15 Ebd., S. 50.
16 Ebd., S. 56.
17 Ebd., S. 58.
18 Ebd., S. 59.
19 Reinhild Feldhaus, Geburt und Tod in Künstlerinnen-Viten der Moderne, Zur Rezeption von Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo und Eva Hesse, in: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Beiträge der 6. Kunsthistorikerinnen-Tagung Tübingen 1996, Hg.: Kathrin Hoffmann-Curtius & Silke Wenk, Marburg 1997, S. 76f.