Charles Lapicque (1898-1988)
Portrait d'un tigre, 1961, Öl auf Leinwand, 120 x 60 cm, Galerie Nathan, Zürich

Voraussetzungen: Gegenständlich - Abstrakt
"Lapicque folgte einer Tendenz zum Gegenständlichen, während andere Künstler seiner Generation in Paris (...) zur Abstraktion drängten. Lapicque aber war in dem Sinne abstrakt, dass er nicht nur Szenen und Erscheinungen der sichtbaren Welt, sondern auch Abstraktes - Gedanken - in die Komposition einbezog."1 Die Raumauffassung des Kubismus ist in den Tigerbildern besonders augenfällig : "les perspectives multiples, la transparence des objets et des plans, l'indépendence de la couleur et de la forme aussi bien que l'ambiguïté des fonds et des formes."2 Besondere Beachtung gilt Lapicques Farbtheorie, die sowohl naturwissenschaftlich als auch kunsttheoretisch begründet ist . "Du comportement différent du rouge et du bleu, le peintre conclut: mettez du rouge, de l'orange, du jaune ce qui est impalpable et lointain, notamment le ciel et du bleu pour ce qui est solide, compact, rapproché, la terre par exemple. Cette nouvelle loi renverse la perspective colorée de la Renaissance, établie empiriquement par Léonard de Vinci. Celle-ci préconisait les tons chauds rouge-orangé-jaune pour les premiers plans et les bleus pour les lointains."3 Die Autonomie des Bildes entsteht für Lapicque aus dem spezifischen Verhältnis der Farben - vorab der Rot- und Blautöne - zueinander, welche die räumliche Ordnung herstellen. Bezugspunkte bilden die Gothik und die Endphase des Barock, das Rokkoko : "le bleu qui est la couleur-lumière dans le vitrail gothique. (...) dans les faïences de Rouen, au XVIIIe siècle et particulièrement dans le style d'inspiration chinoise. (...) Lapicque trouve la meilleure application empirique et ses découvertes: le bleu y exprime ce qui proche, solide, le rouge ce qui est lointain, aérien et mouvant."4

Tigersymbolik und Traum
"Der Tiger drückt eine ungezähmte Kraft, eine Ursprünglichkeit und Wildheit aus, und es machte ihn traurig, dass dieses königliche Tier in Gefangenschaft gehalten wird. Lapicques Tiger sind darum auch im Freien dargestellt. Sie liegen und träumen; sie jagen oder beobachten vorbeiziehende Karawanen." (...) Lapicque vertiefte seine Kenntnisse über die Geschichte des Tigers in der Kultur der Ming-Dynastie in China. In der chinesischen Vorstellung nimmt der Tiger neben dem Drachen einen hohen Rang ein: er tritt wie der Drache als Bote des Glücks auf. Für Lapicque ist der Tiger auch ein Sinnbild der Weisheit."5 Die Mehrfachbilder der Gazellen - ein im Stummfilm beliebtes Stilmittel zur Verdeutlichung der Innenwelt einer(s) Protagonistin(en) - visualisieren die Gedanken und Träume des Tigers: "Imaginé dans un paysage chinois tout de tentures et de pagodes, l'animal royal se laisse aller à des rêves tigresques enfouis dans les plis des draperies de sa mémoire; gazelles galopantes (...). Imaginaires ou réels, les espaces de la peinture font-ils partie de la tenture ou du rêve? Sont-ce de vraies gazelles peintes ou des gazelles rêvées? La peinture ne tranche pas l'équivoque ..."6 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die farbliche Übereinstimmung der mittleren Gazelle in der oberen Bildhälfte mit dem Tiger. "Lapicque bringt auf einem Bild sehr viel zusammen: einen Gang um und in den Ort, den er darstellen will; eine Erinnerung an diesen Ort, eine Vorstellung davon und die Liebe zu ihm. Das macht er - und darin unterscheidet er sich von den Kubisten - ohne irgend etwas zu zertrümmern oder aufzulösen. (...) Die Gleichzeitigkeit bei Lapicque ist nicht eine Gleichzeitigkeit der Sicht, sondern der Vorstellungskraft."7

Delacroix als Bezugspunkt
"Versetzen wir uns ins 19. Jahrhundert zurück, so stossen wir in der Geschichte der Malerei auf Tigerbilder, die in ihrer Darstellungsart Neues ankündigten, und die damaligen Betrachter faszinierten. Es sind die Raubkatzen von Eugène Delacroix, in dessen Gesamtwerk Tierdarstellungen einen thematischen Schwerpunkt einnehmen. (...) In Delacroix und Lapicque finden wir zwei Maler, die sich ihr Leben lang mit der Farbe als künstlerisches Ausdrucksmittel befassten. Bei beiden Künstlern hat die Ausdruckskraft der Farbe die Vorherrschaft über die Form. Während bei Delacroix jedoch die Farbe immer an die Lokalfarbe anschliesst, verstelbständigt sie sich bei Lapicque."8

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Maria Stergiou, Die Tiger von Charles Lapicque und Eugène Delacroix, in: Delacroix und Meine Modernen, Ausstell.-Kat. Galerie Nathan Zürich, Zürich 1998, S. 126.
2 Maryvonne Georget, L'art et le monde, in: Charles Lapicque - Peintures de 1939 à 1961, Ausstell.-Kat. Centre d'Arts Plastiques Royan, Royan 1991, S. 18.
3 Ebd., S. 18.
4 Ebd., S. 18f.
5 Maria Stergiou, Die Tiger von Charles Lapicque und Eugène Delacroix, a.a.O., S. 124.
6 Aloys Perregaux, Lapicque et sa démarche créative, Neuchâtel 1983, S. 145.
7 M. Conil-Lacoste, Le monde, 12 octobre 1962, zit: Lapicque - Oelbilder 1939-1978, Ausstell.-Kat. Galerie Nathan Zürich, Zürich 1983, S. 24.
8 Maria Stergiou, Die Tiger von Charles Lapicque und Eugène Delacroix, a.a.O., S. 126.