Voraussetzungen: Gegenständlich - Abstrakt
"Lapicque folgte einer Tendenz zum Gegenständlichen, während
andere Künstler seiner Generation in Paris (...) zur Abstraktion
drängten. Lapicque aber war in dem Sinne abstrakt, dass er nicht
nur Szenen und Erscheinungen der sichtbaren Welt, sondern auch Abstraktes
- Gedanken - in die Komposition einbezog."1
Die Raumauffassung des Kubismus ist in den Tigerbildern besonders augenfällig
: "les perspectives multiples, la transparence des objets et des
plans, l'indépendence de la couleur et de la forme aussi
bien que l'ambiguïté des fonds et des formes."2
Besondere Beachtung gilt Lapicques Farbtheorie, die sowohl naturwissenschaftlich
als auch kunsttheoretisch begründet ist . "Du comportement
différent du rouge et du bleu, le peintre conclut: mettez du rouge,
de l'orange, du jaune ce qui est impalpable et lointain, notamment
le ciel et du bleu pour ce qui est solide, compact, rapproché,
la terre par exemple. Cette nouvelle loi renverse la perspective colorée
de la Renaissance, établie empiriquement par Léonard
de Vinci. Celle-ci préconisait les tons chauds rouge-orangé-jaune
pour les premiers plans et les bleus pour les lointains."3
Die Autonomie des Bildes entsteht für Lapicque aus dem spezifischen
Verhältnis der Farben - vorab der Rot- und Blautöne -
zueinander, welche die räumliche Ordnung herstellen. Bezugspunkte
bilden die Gothik und die Endphase des Barock, das Rokkoko : "le
bleu qui est la couleur-lumière dans le vitrail gothique. (...)
dans les faïences de Rouen, au XVIIIe siècle et particulièrement
dans le style d'inspiration chinoise. (...) Lapicque trouve la meilleure
application empirique et ses découvertes: le bleu y exprime ce
qui proche, solide, le rouge ce qui est lointain, aérien et mouvant."4
Tigersymbolik und Traum
"Der Tiger drückt eine ungezähmte Kraft, eine Ursprünglichkeit
und Wildheit aus, und es machte ihn traurig, dass dieses königliche
Tier in Gefangenschaft gehalten wird. Lapicques Tiger sind darum auch
im Freien dargestellt. Sie liegen und träumen; sie jagen oder beobachten
vorbeiziehende Karawanen." (...) Lapicque vertiefte seine Kenntnisse
über die Geschichte des Tigers in der Kultur der Ming-Dynastie
in China. In der chinesischen Vorstellung nimmt der Tiger neben dem Drachen
einen hohen Rang ein: er tritt wie der Drache als Bote des Glücks
auf. Für Lapicque ist der Tiger auch ein Sinnbild der Weisheit."5
Die Mehrfachbilder der Gazellen - ein im Stummfilm beliebtes Stilmittel
zur Verdeutlichung der Innenwelt einer(s) Protagonistin(en) -
visualisieren die Gedanken und Träume des Tigers: "Imaginé
dans un paysage chinois tout de tentures et de pagodes, l'animal
royal se laisse aller à des rêves tigresques enfouis dans
les plis des draperies de sa mémoire; gazelles galopantes (...).
Imaginaires ou réels, les espaces de la peinture font-ils
partie de la tenture ou du rêve? Sont-ce de vraies gazelles
peintes ou des gazelles rêvées? La peinture ne tranche pas
l'équivoque ..."6
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die farbliche Übereinstimmung
der mittleren Gazelle in der oberen Bildhälfte mit dem Tiger.
"Lapicque bringt auf einem Bild sehr viel zusammen: einen Gang um
und in den Ort, den er darstellen will; eine Erinnerung an diesen Ort,
eine Vorstellung davon und die Liebe zu ihm. Das macht er - und
darin unterscheidet er sich von den Kubisten - ohne irgend etwas
zu zertrümmern oder aufzulösen. (...) Die Gleichzeitigkeit
bei Lapicque ist nicht eine Gleichzeitigkeit der Sicht, sondern der Vorstellungskraft."7
Delacroix als Bezugspunkt
"Versetzen wir uns ins 19. Jahrhundert zurück, so stossen
wir in der Geschichte der Malerei auf Tigerbilder, die in ihrer Darstellungsart
Neues ankündigten, und die damaligen Betrachter faszinierten. Es
sind die Raubkatzen von Eugène Delacroix, in dessen Gesamtwerk
Tierdarstellungen einen thematischen Schwerpunkt einnehmen. (...)
In Delacroix und Lapicque finden wir zwei Maler, die sich ihr Leben lang
mit der Farbe als künstlerisches Ausdrucksmittel befassten. Bei beiden
Künstlern hat die Ausdruckskraft der Farbe die Vorherrschaft über
die Form. Während bei Delacroix jedoch die Farbe immer an die Lokalfarbe
anschliesst, verstelbständigt sie sich bei Lapicque."8
1 Maria Stergiou, Die
Tiger von Charles Lapicque und Eugène Delacroix, in: Delacroix
und Meine Modernen, Ausstell.-Kat. Galerie Nathan Zürich, Zürich
1998, S. 126.
2 Maryvonne Georget,
L'art et le monde, in: Charles Lapicque - Peintures de 1939
à 1961, Ausstell.-Kat. Centre d'Arts Plastiques Royan, Royan
1991, S. 18.
3 Ebd., S. 18.
4 Ebd., S. 18f.
5 Maria Stergiou, Die
Tiger von Charles Lapicque und Eugène Delacroix, a.a.O., S. 124.
6 Aloys Perregaux, Lapicque
et sa démarche créative, Neuchâtel 1983, S. 145.
7 M. Conil-Lacoste, Le
monde, 12 octobre 1962, zit: Lapicque - Oelbilder 1939-1978,
Ausstell.-Kat. Galerie Nathan Zürich, Zürich 1983, S. 24.
8 Maria Stergiou, Die
Tiger von Charles Lapicque und Eugène Delacroix, a.a.O., S. 126.
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