Zur Maltechnik
"Segantini setzt diese mittägliche Schwere mit der Verwendung
warmer Farbtöne und vor allem durch die Verwendung eines pastosen
Farbauftrags um. Diese Impastos entstehen dadurch, dass die Farbe in fadenähnlichen,
dichten Pinselstrichen auf die Leinwand aufgetragen wird und so eine reliefartige
Oberfläche bildet und durch Lasuren, die sich an gewissen Stellen
überlagern."1
"Zwischen den Strichen lässt er schmale Streifen offen,
die er mit meist komplementären Farben schliesst. Im Unterschied
zu Seurat hat Segantinis Bild ein optisches Zentrum, das mit dem perspektivischen
Fluchtpunkt identisch ist. Auf diese inhaltliche wie formale Mitte bezieht
sich die Farbchromatik."2
"Die divisionistische Malweise war für Segantini eine
Möglichkeit, die Naturbeobachtung ins Ideale zu steigern (...). Segantinis
Mittel ist allein die Lichtintensivierung."3
Bildbeschreibung
"Der horizontal gestaffelte Bildbau hat hier durch den leicht schräg
verlaufenden Zaun eine Dynamisierung erfahren. Auch in diesem Bild
setzt Segantini unterschiedliche Farb- und Lichtzonen gegeneinander.
Die Blumenwiese, auf der die junge Schafhirtin sitzt, hebt sich stark
von der zwischen den Brettern des Zauns sichtbaren Dorfpartie und dem
tiefblauen Himmel ab. Aussergewöhnlich ist der niedrige Blickpunkt,
durch den die sitzende Frau und die neben ihr stehenden Schafe monumental
erscheinen: eine im wahrsten Sinne des Wortes irdische Perspektive. Wir
erleben die Szene, als lägen wir vor der Frau im Gras. Deutlich hat
Segantini den Zaun als ein Bild strukturierendes Element eingesetzt.
Die drei Balken, die links alle am gleichen Pfosten befestigt sind, verlaufen
in leicht unterschiedliche Richtungen. Dies ist an der Birke zu sehen,
die genau in einer Lücke zwischen den horizontal verlaufenden
Latten steht. Die vom oberen Bildrand angeschnittenen Äste sind bereits
stilisiert." (...)
Das Licht als Offenbarung
"Wesentliche Merkmale von Segantinis Divisionismus werden hier erstmals
in voller Deutlichkeit klar: die strahlende Leuchtkraft der Farben, die
materielle Präsenz der Gegenstände und Figuren und die Kühnheit
einer originellen Bildanlage. (...) Die Natur präsentiert dem Betrachter
ihre Überfülle, so dass das Sehen gleichsam überfordert
wird. Segantini hat auf seinen Bildern das Sehfeld in Anlehnung an die
zeitgenössische Panoramaphotographie oft erweitert, so dass man auf
seinen Bildern mehr sieht, als vor Ort und Stelle auf einen Blick wahrnehmbar
ist. Umfassende Allansicht, bei der das Fernste gleichsam im Fernrohrblick
ebenso klar und deutlich wie das Naheliegende erscheint, diesem Eindruck
widerspricht nicht, entspricht vielmehr der enge Ausschnitt, der die ganze
Aufmerksamkeit auf eine Szene fokussiert. (...) In ihrer koloristischen
Leuchtkraft im Kontext der impressionistischen und postimpressionistischen
Malerei (sind die Bilder) einzigartig, weil sie die Gegenstände und
Elemente der Landschaft nicht auflösen, sondern im Gegenteil materiell
verfestigen,"4 wie
in einer "Dokumentarphotographie. (...) Das einfache
Leben zeigt sich als Symbol elementarer Seinszustände (...)".5
Zur Transformation religiöser Symbolik
"Auch der Kirchturm mag stellvertretend für die katholische
Kirche, als Mittlerin zwischen Gott und Mensch, stehen, bildet er doch
mit der waagrechten Zaunlatte ein weiteres Kreuz. Wenn der Maler gerade
an dieser Stelle mit 'G. Segantini Savognin' signiert, weist er
vermutlich auf 'sein Kreuz' mit der Kirche hin, auf sein zwiespältiges
Verhältnis zu den christlichen Konfessionen. Diese religiöse
Konnotation des Bildes wird durch das Kreuzweghäuschen am Horizont
rechts oben verstärkt."6 "Seine Gemälde (...) sind bereits eine Huldigung an den Pantheismus
der überwältigenden Natur Graubündens."7
Zur Tiersymbolik
"Die Tiere des bäuerlichen Lebens sind für Segantini
in den Landschaftsbildern meist ebenso wichtig wie die Menschen. Sein
Symbolismus nähert sie einander an, ja er stellt sie im Idealfall
(...) einander völlig gleichwertig gegenüber."8 "Segantinis Menschen und Tiere in der Natur sind Lebensgleichnisse
für die Mühsal des Lebens. (...) Was seinen Schöpfungen
eigen ist, ist das Einssein von Kreatur und Natur."9 "Schaf und Lamm gelten seit der Antike und in der gesamten christlichen
Bildwelt als Symbol für Unschuld und Demut; sie sind gleichzeitig
im religiösen Sinne Opfertier und Gotteslamm sowie allgemein
Sinnbilder für Reinheit und Geduld."10
1 Giovanni Segantini
1858-1899, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 1990/91, Zürich 1990,
Abbildung 65, S. 136.
2 Mathias Frehner, Ein
Wegbereiter der Moderne, Giovanni Segantini - Leben und Werk, in:
Giovanni Segantini: Eine Retrospektive, Ausstell.-Kat. Kunstmuseum St.
Gallen, Hg.: Beat Stutzer & Roland Wäspe, Ostfildern 1999, S.
23.
3 Ebd., S. 25.
4 Ebd., a.a.O., S. 28.
5 Ebd., S. 29.
6 Reto Bonifazi, Aufenthalt
in Savognin (1886 - 1894): Entwicklung zum Maler des Lichts, in: Hg.:
Reto Bonifazi et al., Segantini Giovanni: Ein Leben in Bildern, Zürich
1999, S. 78
7 Annie-Paule Quinsac,
Der Fall Segantini: Schwankungen in der Rezeptionsgeschichte und die Bedeutung
seines Werkes heute, in: Giovanni Segantini 1858 - 1899, Ausstell.-Kat.
Kunsthaus Zürich, 1990/91, Zürich 1990, S. 30.
8 Mathias Frehner, a.a.O.,
S .21.
9 Ebd., S. 21.
10 Beat Stutzer, La
Bellezza Liberata Della Materia, Zu den Gemälden und Zeichnungen
im Segantini Museum, in: Giovanni Segantini: Eine Retrospektive, Ausstell.-Kat.
Kunstmuseum St. Gallen 1999, Hg.: Beat Stutzer & Roland Wäspe,
Ostfildern 1999, S. 72.
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