Giovanni Segantini (1858-1899)
Strickendes Mädchen, 1888, Öl auf Leinwand, 53 x 91,6 cm, Kunsthaus Zürich

Zur Maltechnik
"Segantini setzt diese mittägliche Schwere mit der Verwendung warmer Farbtöne und vor allem durch die Verwendung eines pastosen Farbauftrags um. Diese Impastos entstehen dadurch, dass die Farbe in fadenähnlichen, dichten Pinselstrichen auf die Leinwand aufgetragen wird und so eine reliefartige Oberfläche bildet und durch Lasuren, die sich an gewissen Stellen überlagern."1 "Zwischen den Strichen lässt er schmale Streifen offen, die er mit meist komplementären Farben schliesst. Im Unterschied zu Seurat hat Segantinis Bild ein optisches Zentrum, das mit dem perspektivischen Fluchtpunkt identisch ist. Auf diese inhaltliche wie formale Mitte bezieht sich die Farbchromatik."2 "Die divisionistische Malweise war für Segantini eine Möglichkeit, die Naturbeobachtung ins Ideale zu steigern (...). Segantinis Mittel ist allein die Lichtintensivierung."3

Bildbeschreibung
"Der horizontal gestaffelte Bildbau hat hier durch den leicht schräg verlaufenden Zaun eine Dynamisierung erfahren. Auch in diesem Bild setzt Segantini unterschiedliche Farb- und Lichtzonen gegeneinander. Die Blumenwiese, auf der die junge Schafhirtin sitzt, hebt sich stark von der zwischen den Brettern des Zauns sichtbaren Dorfpartie und dem tiefblauen Himmel ab. Aussergewöhnlich ist der niedrige Blickpunkt, durch den die sitzende Frau und die neben ihr stehenden Schafe monumental erscheinen: eine im wahrsten Sinne des Wortes irdische Perspektive. Wir erleben die Szene, als lägen wir vor der Frau im Gras. Deutlich hat Segantini den Zaun als ein Bild strukturierendes Element eingesetzt. Die drei Balken, die links alle am gleichen Pfosten befestigt sind, verlaufen in leicht unterschiedliche Richtungen. Dies ist an der Birke zu sehen, die genau in einer Lücke zwischen den horizontal verlaufenden Latten steht. Die vom oberen Bildrand angeschnittenen Äste sind bereits stilisiert." (...)

Das Licht als Offenbarung
"Wesentliche Merkmale von Segantinis Divisionismus werden hier erstmals in voller Deutlichkeit klar: die strahlende Leuchtkraft der Farben, die materielle Präsenz der Gegenstände und Figuren und die Kühnheit einer originellen Bildanlage. (...) Die Natur präsentiert dem Betrachter ihre Überfülle, so dass das Sehen gleichsam überfordert wird. Segantini hat auf seinen Bildern das Sehfeld in Anlehnung an die zeitgenössische Panoramaphotographie oft erweitert, so dass man auf seinen Bildern mehr sieht, als vor Ort und Stelle auf einen Blick wahrnehmbar ist. Umfassende Allansicht, bei der das Fernste gleichsam im Fernrohrblick ebenso klar und deutlich wie das Naheliegende erscheint, diesem Eindruck widerspricht nicht, entspricht vielmehr der enge Ausschnitt, der die ganze Aufmerksamkeit auf eine Szene fokussiert. (...) In ihrer koloristischen Leuchtkraft im Kontext der impressionistischen und postimpressionistischen Malerei (sind die Bilder) einzigartig, weil sie die Gegenstände und Elemente der Landschaft nicht auflösen, sondern im Gegenteil materiell verfestigen,"4 wie in einer "Dokumentarphotographie. (...) Das einfache Leben zeigt sich als Symbol elementarer Seinszustände (...)".5

Zur Transformation religiöser Symbolik
"Auch der Kirchturm mag stellvertretend für die katholische Kirche, als Mittlerin zwischen Gott und Mensch, stehen, bildet er doch mit der waagrechten Zaunlatte ein weiteres Kreuz. Wenn der Maler gerade an dieser Stelle mit 'G. Segantini Savognin' signiert, weist er vermutlich auf 'sein Kreuz' mit der Kirche hin, auf sein zwiespältiges Verhältnis zu den christlichen Konfessionen. Diese religiöse Konnotation des Bildes wird durch das Kreuzweghäuschen am Horizont rechts oben verstärkt."6 "Seine Gemälde (...) sind bereits eine Huldigung an den Pantheismus der überwältigenden Natur Graubündens."7

Zur Tiersymbolik
"Die Tiere des bäuerlichen Lebens sind für Segantini in den Landschaftsbildern meist ebenso wichtig wie die Menschen. Sein Symbolismus nähert sie einander an, ja er stellt sie im Idealfall (...) einander völlig gleichwertig gegenüber."8 "Segantinis Menschen und Tiere in der Natur sind Lebensgleichnisse für die Mühsal des Lebens. (...) Was seinen Schöpfungen eigen ist, ist das Einssein von Kreatur und Natur."9 "Schaf und Lamm gelten seit der Antike und in der gesamten christlichen Bildwelt als Symbol für Unschuld und Demut; sie sind gleichzeitig im religiösen Sinne Opfertier und Gotteslamm sowie allgemein Sinnbilder für Reinheit und Geduld."10

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Giovanni Segantini 1858-1899, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 1990/91, Zürich 1990, Abbildung 65, S. 136.
2 Mathias Frehner, Ein Wegbereiter der Moderne, Giovanni Segantini - Leben und Werk, in: Giovanni Segantini: Eine Retrospektive, Ausstell.-Kat. Kunstmuseum St. Gallen, Hg.: Beat Stutzer & Roland Wäspe, Ostfildern 1999, S. 23.
3 Ebd., S. 25.
4 Ebd., a.a.O., S. 28.
5 Ebd., S. 29.
6 Reto Bonifazi, Aufenthalt in Savognin (1886 - 1894): Entwicklung zum Maler des Lichts, in: Hg.: Reto Bonifazi et al., Segantini Giovanni: Ein Leben in Bildern, Zürich 1999, S. 78
7 Annie-Paule Quinsac, Der Fall Segantini: Schwankungen in der Rezeptionsgeschichte und die Bedeutung seines Werkes heute, in: Giovanni Segantini 1858 - 1899, Ausstell.-Kat. Kunsthaus Zürich, 1990/91, Zürich 1990, S. 30.
8 Mathias Frehner, a.a.O., S .21.
9 Ebd., S. 21.
10 Beat Stutzer, La Bellezza Liberata Della Materia, Zu den Gemälden und Zeichnungen im Segantini Museum, in: Giovanni Segantini: Eine Retrospektive, Ausstell.-Kat. Kunstmuseum St. Gallen 1999, Hg.: Beat Stutzer & Roland Wäspe, Ostfildern 1999, S. 72.