Die Kinderzeichnung als Inspiriationsquelle1
"Als Paul Klee im Jahr 1902 aus Rom zurückkehrte, wo er seinen
letzten akademischen 'Schliff' als Künstler erhalten
hatte, stiess er bei der Suche nach Bilderrahmen im Speicherraum des elterlichen
Hauses auf einige seiner eigenen Kinderzeichnungen. Diese Blätter
berührten eine Reihe fundamentaler Fragen und bewegten den Künstler
derart, dass er sie in einem Brief an seine Verlobte Lily 'bis jetzt
das Bedeutendste' nannte. Er rühmte ihre hochentwickelte stilistische
Eigenart und ihren ursprünglichen, 'naiv geschaut[en]' Charakter
(...)."2 Seine
Auseinandersetzung mit der Kinderkunst - nur ein Aspekt seines höchst
komplexen künstlerischen Oeuvres - die Klee als "Uranfänge
der Kunst, wie man sie eher (...) daheim in der Kinderstube findet",
bezeichnet, "schliesst die abstrakte Analogie zwischen
Kind und Künstler aus, die deren ebenso wirklichem wie wesentlichem
biologischen Unterschied nicht gerecht wird. Er fixiert vielmehr einen
Bezugspunkt in der biologischen Vergangenheit, an dem sich der Künstler
orientieren soll, um wieder 3 den
natürlichen Impuls zum Bildschaffen zu fühlen. Die
Bilder der Kinder (...) zeugen von der Naturgeschichte der Kunst, in der
die Biographie des Einzelnen die Entwicklung der Menschheit wiederholt.
Das ist eine natürliche Tradition, die Alternative zur entwerteten
Tradition der Kultur."4
Bildbeschreibung
"Von der Art und Weise, wie Kinder Formen wahrnehmen und wiedergeben,
gelangte er zur Ikonographie seiner ersten Zeichnungen, als könne
er durch die Rückkehr zu den Gegenständen, die er damals
gewählt hatte, auch die ehemaligen Impulse zurückgewinnen, die
ihn zu diesen geführt hatten. (...) Die Zeichnungen einer Forelle
und eines Barsches ('Forelle' und 'Egli') in einem
Skizzenbuch von 1889, entstanden im 'fortgeschrittenen' Alter
von neun oder zehn Jahren, scheinen zu den Anregungen zu gehören,
die der berühmten Serie von Fischdarstellungen aus den Jahren 1925,
Der Goldfisch und Fischzauber, sowie dem Bild Um
den Fisch von 1926 zugrunde lagen."5 "Märchenhaft kostbar steht der goldene Fisch vor dem blau-schwarzen
Grund, der undurchdringlich tief scheint und doch da durchsichtig ist,
wo ihn das Licht, gebrochen von den Bewegungen des Wassers, durchdringt
und auf Lebewesen trifft: kleine, rötlich-violette Fische, die den
Bildrändern zustreben, durch zarte, blauflammende Wasserpflanzen
hindurch. Mächtig beherrscht der goldene Fisch die Bildmitte, schafft
um sich ein unbewegtes Feld der Stille und Einsamkeit, aus dem das Gold
seiner glänzenden Schuppen und die Härte seiner feinen
roten Stacheln, um so wirksamer hervorblitzen. Sein übergrosses
Auge scheint vibrierend zu kreisen, alles wahrzunehmen."6 "(...) der reine Dreiklang der Primärfarben Rot, Blau, Gelb
[transportiert] in das kühl-klare Element des Goldfischs. In transitorischer
energiegeladener Regungslosigkeit verharrend, erleuchtet das gleissende
Fischwunder die dunkelblaue Dämmerwelt, in welche sich die kleinen
roten Fische flüchten."7 "Das Wundertier des goldenen Fisches lebt in tiefblauem Wasser
mit anderen kleineren Fischen in Rot und Violett zusammen, sie schwimmen
an den Bildrändern, als fürchteten sie die Majestät des
grossen Bruders. Leichte Wellen kräuseln sich, und vom unteren Bildrand
her wachsen hellblaue Pflanzen empor, in einfachen Formen, wie wir sie
auf Wiesen und an Teichen finden. Der Goldfisch strahlt von innen und
sollte eigentlich leuchten, das Wasser erhellen, aber es bleibt dunkel,
er allein leuchtet in seiner unwahrscheinlichen Farbe. Die zinnoberroten
Flossen und das rote Auge erhöhen noch den Glanz der helleren, wie
aufgestickten Schuppen. Bewegt er sich? Vermutlich doch, denn die
sieben Artgenossen sehen aus, als wenn sie vor ihm flüchteten. Mit
der Gelassenheit eines Gottes teilt er das blaue Element, das in der Mitte
am dunkelsten und tiefsten ist und keine Andeutungen von Vegetation
zeigt."8
Traum und Archetyp oder "Kinderstil"9
als "Ablehnung von Konvention"10
"Like Fish Magic the latter (gemeint ist Der
Goldfisch) reveals
to us a ghostly nocturnal setting - the hidden depths of
the sea-bed against which a group of iridescent fishes glimmer like jewels.
One of these, in the centre, appears motionless and, with its timeless
glow, addresses us with all the magic and mystery of an ancient rune.
Gaunt, scaly, and spiny, this fish appears like a lone survivor from another
age when compared with its darting companions and readily casts our minds
forward to those primitive and seemingly fossilized species one encounters
in Klee's late art. It is as though the artist is here affording
us with a vision of the original fish - of the distant archetype
from whence all others derived. In this respect even so seemingly
uncomplicated a picture as this may be seen to possess a symbolic
dimension and a more universal meaning which prefigures that of the more
mystifying Fish Magic."11 "Klee ist der poetischste aller Maler des 20. Jahrhunderts. Obgleich
sein Bild keine Geschichte erzählt, scheint es doch eine Szene
aus Tausendundeiner Nacht zu schildern. Es zeigt, dass Zartheit und Farbenglut
nicht unbedingt Widersprüche sein müssen, dass Schönheit
auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts durchaus die Dimension eines Weltgleichnisses
haben kann. Der Goldfisch behauptet allein den Platz und vertreibt
die Artgenossen; bei aller Freiheit scheinen seine starren Stacheln
gefährlich. Das flackernde Auge wirkt bedrohlich. So zeigt sich auch
das gemalte Märchen durchdrungen von der realen Welt, lebt aus der
Spannung zwischen der Erfahrung des Bösen und der Utopie des Guten."12 "An Sternbilder oder Tierkreiszeichen oder an Symbole wäre
wohl kaum zu denken, der Goldene Fisch ist lediglich ein Wunder an Grösse
und Schönheit. Alles fügt sich ihm, alles ist für ihn da.
'Zwiesprache mit der Natur als conditio sine qua non', das
wohl, aber Natur als Ausgangspunkt? Es handelt sich um ein Traumbild
in Goldgelb und Coelinblau auf Ultramarin. Aber die Formen der Gräser
und Blätter, der Wellen und Fischschuppen sind den Vorstellungen
assimiliert, die wir von den Dingen haben. Auch dies ein Gleichnis der
Welt, in die sich Klee dichtend und malend einbezieht."13 Marcel
Franciscono bezeichnet "die Beziehung der Kleeschen
Mikrokosmen zu kindlichem Bildschaffen"14 als eine "typische Neigung, weitgefasste, vielschichtige
Sachverhalte wie durch ein psychologisches und emotionales Verkleinerungsglas
betrachtet wiederzugeben"15. "In Anknüpfung an die Evangelien (Mt 4,19) wurde
das Fischsymbol auch auf die durch das Wasser des Lebens getauften
Christen bezogen. In der analytischen Psychologie von C.G. Jung ist der
Fisch ein Symbol des Selbst."16 Mit
Blick auf das bekannteste Bild aus der Serie von Fischdarstellungen,
dem "Fischzauber" von 1925, lässt sich das vorliegende
Werk ebenfalls "als eine Metapher der Schöpfung -
der künstlerischen wie der realen - verstehen, im Rahmen derer
die formalen Grundelemente der Kunst (einfache Umrisse und geometrische
Flächen) zu den ontogenetischen Grundlagen des Zeichnens und
diese wiederum zu den Grundbausteinen des Universums selbst in Analogie
gesetzt werden."17 "Im Unterschied zur empathisch positiven Beurteilung in den Anfängen
der Avantgarde wurde die Kindheitsthematik für Klee in den dreissiger
Jahren zum Anlass einer pessimistischen Auseinandersetzung mit dem
Krieg."18 Das
Aufkommen des Nationalsozialismus, die Vorausahnung von Krieg und Zerstörung
verdeutlichte Klee "in der Welt des Kindes"19.
1 Der paradigmatische
Beitrag zu dieser Thematik von Otto Karl Werckmeister erschien erstmals
unter dem Titel "The Issue of Childhood in the Art of Paul Klee"
in: Arts Magazine, 52, 1, 1977, S. 138-151. Die überarbeitete deutsche
Fassung findet sich in: Versuche über Paul Klee, Frankfurt a/Main
1981, S. 124-178.
2 Jonathan Fineberg,
Mit dem Auge des Kindes - Kinderzeichnung und moderne Kunst, Hg.:
Helmut Friedel und Josef Helfenstein, Ausstell.-Kat. Lenbachhaus, Kunstbau,
München 1995, München 1995, S. 92.
3 Paul Klee, in: Die
Alpen, Monatszeitschrift für schweiz. und allg. Kultur, Heft 5, Januar
1912, S. 302, zit.: Paul Klee, Schriften - Rezensionen und Aufsätze,
Hg.: Christian Geelhaar, Köln 1976, S. 97.
4 Otto Karl Werckmeister,
a.a.O., S. 126.
5 Jonathan Fineberg,
Mit dem Auge des Kindes - Kinderzeichnung und moderne Kunst, a.a.O.,
S. 100.
6 http://www.hamburger-kunsthalle.de/seiten/klee.htm
7 Christian Geelhaar,
Paul Klee - Leben und Werk, Köln 1977, S. 56f.
8 Will Grohmann, Paul
Klee, Köln 1989, S. 74.
9 Paul Klee, Briefe an
die Familie, I-II, Köln 1979, I, S. 492, zit. Otto Karl Werckmeister,
a.a.O., S. 134.
10 Otto Karl Werckmeister,
a.a.O., S. 134.
11 Richard Verdi, Klee
and Nature, London 1984, S. 172f.
12 http://www.hamburger-kunsthalle.de/seiten/klee.htm
13 Will Grohmann, a.a.O.,
S. 74.
14 Marcel Franciscono,
Paul Klee und die Kinderzeichnung, in: Kinderzeichnung und die Kunst des
20. Jahrhunderts, Hg.: Jonathan Fineberg in Zusammenarbeit mit dem Lenbachhaus,
München und dem Kunstmuseum Bern, Ostildern-Ruit 1995, S. 44.
15 Ebd., S. 43.
16 Hg.: Manfred Lurker,
Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1991, S. 210.
17 Marcel Franciscono,
a.a.O., S. 44.
18 Ebd., S. 178.
19 Tilman Osterwold,
Paul Klee - Ein Kind träumt, Stuttgart 1979, S. 6.
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