Paul Klee (1879-1940), Der Goldfisch (Der goldene Fisch), 1925,
Ölfarbe und Aquarell auf Papier auf Karton, 49,6 x 69,2 cm, Hamburger Kunsthalle, Hamburg

Die Kinderzeichnung als Inspiriationsquelle1
"Als Paul Klee im Jahr 1902 aus Rom zurückkehrte, wo er seinen letzten akademischen 'Schliff' als Künstler erhalten hatte, stiess er bei der Suche nach Bilderrahmen im Speicherraum des elterlichen Hauses auf einige seiner eigenen Kinderzeichnungen. Diese Blätter berührten eine Reihe fundamentaler Fragen und bewegten den Künstler derart, dass er sie in einem Brief an seine Verlobte Lily 'bis jetzt das Bedeutendste' nannte. Er rühmte ihre hochentwickelte stilistische Eigenart und ihren ursprünglichen, 'naiv geschaut[en]' Charakter (...)."2 Seine Auseinandersetzung mit der Kinderkunst - nur ein Aspekt seines höchst komplexen künstlerischen Oeuvres - die Klee als "Uranfänge der Kunst, wie man sie eher (...) daheim in der Kinderstube findet", bezeichnet, "schliesst die abstrakte Analogie zwischen Kind und Künstler aus, die deren ebenso wirklichem wie wesentlichem biologischen Unterschied nicht gerecht wird. Er fixiert vielmehr einen Bezugspunkt in der biologischen Vergangenheit, an dem sich der Künstler orientieren soll, um wieder 3 den natürlichen Impuls zum Bildschaffen zu fühlen. Die Bilder der Kinder (...) zeugen von der Naturgeschichte der Kunst, in der die Biographie des Einzelnen die Entwicklung der Menschheit wiederholt. Das ist eine natürliche Tradition, die Alternative zur entwerteten Tradition der Kultur."4

Bildbeschreibung
"Von der Art und Weise, wie Kinder Formen wahrnehmen und wiedergeben, gelangte er zur Ikonographie seiner ersten Zeichnungen, als könne er durch die Rückkehr zu den Gegenständen, die er damals gewählt hatte, auch die ehemaligen Impulse zurückgewinnen, die ihn zu diesen geführt hatten. (...) Die Zeichnungen einer Forelle und eines Barsches ('Forelle' und 'Egli') in einem Skizzenbuch von 1889, entstanden im 'fortgeschrittenen' Alter von neun oder zehn Jahren, scheinen zu den Anregungen zu gehören, die der berühmten Serie von Fischdarstellungen aus den Jahren 1925, Der Goldfisch und Fischzauber, sowie dem Bild Um den Fisch von 1926 zugrunde lagen."5 "Märchenhaft kostbar steht der goldene Fisch vor dem blau-schwarzen Grund, der undurchdringlich tief scheint und doch da durchsichtig ist, wo ihn das Licht, gebrochen von den Bewegungen des Wassers, durchdringt und auf Lebewesen trifft: kleine, rötlich-violette Fische, die den Bildrändern zustreben, durch zarte, blauflammende Wasserpflanzen hindurch. Mächtig beherrscht der goldene Fisch die Bildmitte, schafft um sich ein unbewegtes Feld der Stille und Einsamkeit, aus dem das Gold seiner glänzenden Schuppen und die Härte seiner feinen roten Stacheln, um so wirksamer hervorblitzen. Sein übergrosses Auge scheint vibrierend zu kreisen, alles wahrzunehmen."6 "(...) der reine Dreiklang der Primärfarben Rot, Blau, Gelb [transportiert] in das kühl-klare Element des Goldfischs. In transitorischer energiegeladener Regungslosigkeit verharrend, erleuchtet das gleissende Fischwunder die dunkelblaue Dämmerwelt, in welche sich die kleinen roten Fische flüchten."7 "Das Wundertier des goldenen Fisches lebt in tiefblauem Wasser mit anderen kleineren Fischen in Rot und Violett zusammen, sie schwimmen an den Bildrändern, als fürchteten sie die Majestät des grossen Bruders. Leichte Wellen kräuseln sich, und vom unteren Bildrand her wachsen hellblaue Pflanzen empor, in einfachen Formen, wie wir sie auf Wiesen und an Teichen finden. Der Goldfisch strahlt von innen und sollte eigentlich leuchten, das Wasser erhellen, aber es bleibt dunkel, er allein leuchtet in seiner unwahrscheinlichen Farbe. Die zinnoberroten Flossen und das rote Auge erhöhen noch den Glanz der helleren, wie aufgestickten Schuppen. Bewegt er sich? Vermutlich doch, denn die sieben Artgenossen sehen aus, als wenn sie vor ihm flüchteten. Mit der Gelassenheit eines Gottes teilt er das blaue Element, das in der Mitte am dunkelsten und tiefsten ist und keine Andeutungen von Vegetation zeigt."8

Traum und Archetyp oder "Kinderstil"9 als "Ablehnung von Konvention"10
"Like Fish Magic the latter (gemeint ist Der Goldfisch) reveals to us a ghostly nocturnal setting - the hidden depths of the sea-bed against which a group of iridescent fishes glimmer like jewels. One of these, in the centre, appears motionless and, with its timeless glow, addresses us with all the magic and mystery of an ancient rune. Gaunt, scaly, and spiny, this fish appears like a lone survivor from another age when compared with its darting companions and readily casts our minds forward to those primitive and seemingly fossilized species one encounters in Klee's late art. It is as though the artist is here affording us with a vision of the original fish - of the distant archetype from whence all others derived. In this respect even so seemingly uncomplicated a picture as this may be seen to possess a symbolic dimension and a more universal meaning which prefigures that of the more mystifying Fish Magic."11 "Klee ist der poetischste aller Maler des 20. Jahrhunderts. Obgleich sein Bild keine Geschichte erzählt, scheint es doch eine Szene aus Tausendundeiner Nacht zu schildern. Es zeigt, dass Zartheit und Farbenglut nicht unbedingt Widersprüche sein müssen, dass Schönheit auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts durchaus die Dimension eines Weltgleichnisses haben kann. Der Goldfisch behauptet allein den Platz und vertreibt die Artgenossen; bei aller Freiheit scheinen seine starren Stacheln gefährlich. Das flackernde Auge wirkt bedrohlich. So zeigt sich auch das gemalte Märchen durchdrungen von der realen Welt, lebt aus der Spannung zwischen der Erfahrung des Bösen und der Utopie des Guten."12 "An Sternbilder oder Tierkreiszeichen oder an Symbole wäre wohl kaum zu denken, der Goldene Fisch ist lediglich ein Wunder an Grösse und Schönheit. Alles fügt sich ihm, alles ist für ihn da. 'Zwiesprache mit der Natur als conditio sine qua non', das wohl, aber Natur als Ausgangspunkt? Es handelt sich um ein Traumbild in Goldgelb und Coelinblau auf Ultramarin. Aber die Formen der Gräser und Blätter, der Wellen und Fischschuppen sind den Vorstellungen assimiliert, die wir von den Dingen haben. Auch dies ein Gleichnis der Welt, in die sich Klee dichtend und malend einbezieht."13 Marcel Franciscono bezeichnet "die Beziehung der Kleeschen Mikrokosmen zu kindlichem Bildschaffen"14 als eine "typische Neigung, weitgefasste, vielschichtige Sachverhalte wie durch ein psychologisches und emotionales Verkleinerungsglas betrachtet wiederzugeben"15. "In Anknüpfung an die Evangelien (Mt 4,19) wurde das Fischsymbol auch auf die durch das Wasser des Lebens getauften Christen bezogen. In der analytischen Psychologie von C.G. Jung ist der Fisch ein Symbol des Selbst."16 Mit Blick auf das bekannteste Bild aus der Serie von Fischdarstellungen, dem "Fischzauber" von 1925, lässt sich das vorliegende Werk ebenfalls "als eine Metapher der Schöpfung - der künstlerischen wie der realen - verstehen, im Rahmen derer die formalen Grundelemente der Kunst (einfache Umrisse und geometrische Flächen) zu den ontogenetischen Grundlagen des Zeichnens und diese wiederum zu den Grundbausteinen des Universums selbst in Analogie gesetzt werden."17 "Im Unterschied zur empathisch positiven Beurteilung in den Anfängen der Avantgarde wurde die Kindheitsthematik für Klee in den dreissiger Jahren zum Anlass einer pessimistischen Auseinandersetzung mit dem Krieg."18 Das Aufkommen des Nationalsozialismus, die Vorausahnung von Krieg und Zerstörung verdeutlichte Klee "in der Welt des Kindes"19.

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Der paradigmatische Beitrag zu dieser Thematik von Otto Karl Werckmeister erschien erstmals unter dem Titel "The Issue of Childhood in the Art of Paul Klee" in: Arts Magazine, 52, 1, 1977, S. 138-151. Die überarbeitete deutsche Fassung findet sich in: Versuche über Paul Klee, Frankfurt a/Main 1981, S. 124-178.
2 Jonathan Fineberg, Mit dem Auge des Kindes - Kinderzeichnung und moderne Kunst, Hg.: Helmut Friedel und Josef Helfenstein, Ausstell.-Kat. Lenbachhaus, Kunstbau, München 1995, München 1995, S. 92.
3 Paul Klee, in: Die Alpen, Monatszeitschrift für schweiz. und allg. Kultur, Heft 5, Januar 1912, S. 302, zit.: Paul Klee, Schriften - Rezensionen und Aufsätze, Hg.: Christian Geelhaar, Köln 1976, S. 97.
4 Otto Karl Werckmeister, a.a.O., S. 126.
5 Jonathan Fineberg, Mit dem Auge des Kindes - Kinderzeichnung und moderne Kunst, a.a.O., S. 100.
6 http://www.hamburger-kunsthalle.de/seiten/klee.htm
7 Christian Geelhaar, Paul Klee - Leben und Werk, Köln 1977, S. 56f.
8 Will Grohmann, Paul Klee, Köln 1989, S. 74.
9 Paul Klee, Briefe an die Familie, I-II, Köln 1979, I, S. 492, zit. Otto Karl Werckmeister, a.a.O., S. 134.
10 Otto Karl Werckmeister, a.a.O., S. 134.
11 Richard Verdi, Klee and Nature, London 1984, S. 172f.
12 http://www.hamburger-kunsthalle.de/seiten/klee.htm
13 Will Grohmann, a.a.O., S. 74.
14 Marcel Franciscono, Paul Klee und die Kinderzeichnung, in: Kinderzeichnung und die Kunst des 20. Jahrhunderts, Hg.: Jonathan Fineberg in Zusammenarbeit mit dem Lenbachhaus, München und dem Kunstmuseum Bern, Ostildern-Ruit 1995, S. 44.
15 Ebd., S. 43.
16 Hg.: Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1991, S. 210.
17 Marcel Franciscono, a.a.O., S. 44.
18 Ebd., S. 178.
19 Tilman Osterwold, Paul Klee - Ein Kind träumt, Stuttgart 1979, S. 6.