Franz Marc (1880-1916)
Rehe in der Dämmerung, 1909, Öl auf Leinwand, 70,5 x 100,5 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Bildbeschreibung
"Aus den Jahren 1908/09 sind eine ganze Reihe von Bildern, Zeichnungen und Lithographien mit Rehen bekannt. Das spürbare Bemühen um immer grössere formale Vereinfachung scheint in diesem Bilde am weitesten fortgeschritten. Die Farbe wird jedoch noch ganz im traditionellen Sinne naturalistisch gebraucht."1 "Das scheue Wesen des Wildes, das in der fahlen Dämmerung auf moorigem Grund Nahrung sucht, ist suggestiv wiedergegeben. Bildfüllende Nahsicht der beiden Tiere und entschiedener Kontrast der Ansichten und Haltungen verleihen dem Motiv Prägnanz, doch ohne den Eindruck des Zwanglosen aufzuheben. (...) Die Nähe zu zeitgenössischen Konventionen des Tierbildes wahrt Marc länger, als es auf den ersten Blick scheinen mag (...)."2 "Das Gemälde 'Rehe in der Dämmerung' von 1909 zeigt eine strichelnde Malweise, die - mit deutlicher Anregung von van Gogh - das Auge über die Sequenzen der Pinselsetzungen und ihrer Verwandlungen hin weitertreibt. Vergleichbar mit späteren Bildern ist die Flüchtigkeit des betrachtenden Erfassens, das von den Pinselstrichen weg zu übergeordneten Partien weitergeleitet wird und von diesen wieder zu grösseren Formationen und Gruppierungen gelangt, die wiederum das ganze Bild durch dynamische Zuordnungen in Spannung hält. Die übergreifenden Kurven an den Rehkörpern, die Parallelität der Hälse, in der ihre unterschiedliche Bewegungsrichtung kontrastiert wird, und schliesslich die 'kontrapostische' Entgegensetzung der beiden Rehe mit der bildparallelen, nach oben gebogenen Kurve links und der räumlichen, nach unten gebogenen Kurve rechts erinnern bereits an Formorganisationen in späteren Bildern. Hier sind die Sehbezüge jedoch eng an die begrenzten Motive, die Rehe, gebunden; ihnen verleihen sie Bewegung, noch nicht dem Prozess des Betrachtens. Die Formbezüge und -kontraste sind prägnant und wirkungsvoll, aber auch einfach."3

Zur Tiersymbolik im christlich-mystischen Weltverständnis von Marc
"Abgesehen davon, dass er ein Urbild der Natur schaffen wollte, interessierte Marc das Reh auch als Symbol. In Anbetracht der Bedeutung, die Rot in seinem System von Farbäquivalenzen innehat", vermerkt Rosenthal mit Blick auf die späteren Rehdarstellungen, "sind die Rehe vollkommen im Einklang mit der Erde, ja, eins mit ihr."4 In diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang stellt Klaus Lankheit fest, dass es im Werk von Franz Marc um eine "symbolische Darstellung, ausgestattet mit moralischer Bedeutung"5 geht. "Die Reinheit und Unschuld der Rehe soll, mit anderen Worten, daran erinnern, wie sehr sich unsere eigene menschliche Natur von dieser unterscheidet."6 Mit den Mitteln der Ikonographie erkundet Johannes Langner die Genese des Reh-Motivs innerhalb von Marcs Werk: "Die Übernahme von Posen und Kompositionsmustern aus dem Figurenbild in das Tierbild (z.B. die drei Grazien, Familienbild) ist bei Marc immer wieder zu beobachten."7 Mit der Idee vom reineren Dasein des Tieres gegenüber dem Menschen will es Marc "nicht bei einem sittenbildlichen Verständnis bewenden lassen. Im Familienbild der Rehe soll es nicht bei der Idylle bleiben, sondern zum kosmischen Symbol kommen."8 Franz Marc besass selber einige Rehe, weil er für diese Tiere eine besondere Zuneigung empfand, so dass Langner mit Blick auf ein Bild aus dem Jahre 1914 seine visionäre Vorstellung vom Einssein mit sich und der Welt mit folgenden Worten kommentiert: "Der Stoff der Wirklichkeit, aus dem der Traum vom Paradies (...) gemacht ist, (...) ist ein enger, vertrauter Umgang mit dem dargestellten Tier. Die Sakralisierung seines Bildes ist hier zugleich die Verklärung einer gelebten Liebe."9 "Während das Reh in Marcs Repertoire relativ konsequent als 'Typus' dargestellt wurde, setzte er das Pferd (...) flexibler ein."10

Über den Künstler Wahrnehmungstext von Garda Alexander

1 Städtische Galerie im Lenbachhaus München: Franz Marc 1880 - 1916, Ausstell.-Kat. 1980, München 1980, Abb. 21, S. 149.
2 Johannes Langner, "Symbole auf die Altäre der kommenden geistigen Religion": Zur Sakralisierung des Tierbildes bei Franz Marc, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg, 18, 1981, S. 83.
3 Erich Franz, Franz Marc: Konstruktionen der Verwandlung, in: Franz Marc: Kräfte der Natur - Werke 1912 - 1915, Hg.: Erich Franz im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe Westfälisches Landesmuseum, Ausstell.-Kat. Staatsgalerie moderner Kunst München, Ostfildern 1993, S. 23.
4 Mark Rosenthal, Franz Marc, München 1992, S. 30.
5 Klaus Lankheit, Franz Marc: Unteilbares Sein, Aquarelle und Zeichnungen, Köln 1959, S.22.
6 Rosenthal, a.a.O., S. 30.
7 Johannes Langner, a.a.O., S. 85.
8 Ebd., S. 90.
9 Ebd., S. 98.
10 Ebd., S. 30.