Bildbeschreibung
"Aus den Jahren 1908/09 sind eine ganze Reihe von Bildern, Zeichnungen
und Lithographien mit Rehen bekannt. Das spürbare Bemühen um
immer grössere formale Vereinfachung scheint in diesem Bilde am weitesten
fortgeschritten. Die Farbe wird jedoch noch ganz im traditionellen Sinne
naturalistisch gebraucht."1
"Das scheue Wesen des Wildes, das in der fahlen Dämmerung auf
moorigem Grund Nahrung sucht, ist suggestiv wiedergegeben. Bildfüllende
Nahsicht der beiden Tiere und entschiedener Kontrast der Ansichten
und Haltungen verleihen dem Motiv Prägnanz, doch ohne den Eindruck
des Zwanglosen aufzuheben. (...) Die Nähe zu zeitgenössischen
Konventionen des Tierbildes wahrt Marc länger, als es auf den ersten
Blick scheinen mag (...)."2
"Das Gemälde 'Rehe in der Dämmerung' von 1909
zeigt eine strichelnde Malweise, die - mit deutlicher Anregung von
van Gogh - das Auge über die Sequenzen der Pinselsetzungen
und ihrer Verwandlungen hin weitertreibt. Vergleichbar mit späteren
Bildern ist die Flüchtigkeit des betrachtenden Erfassens, das von
den Pinselstrichen weg zu übergeordneten Partien weitergeleitet
wird und von diesen wieder zu grösseren Formationen und Gruppierungen
gelangt, die wiederum das ganze Bild durch dynamische Zuordnungen in Spannung
hält. Die übergreifenden Kurven an den Rehkörpern, die
Parallelität der Hälse, in der ihre unterschiedliche Bewegungsrichtung
kontrastiert wird, und schliesslich die 'kontrapostische'
Entgegensetzung der beiden Rehe mit der bildparallelen, nach oben
gebogenen Kurve links und der räumlichen, nach unten gebogenen
Kurve rechts erinnern bereits an Formorganisationen in späteren Bildern.
Hier sind die Sehbezüge jedoch eng an die begrenzten Motive, die
Rehe, gebunden; ihnen verleihen sie Bewegung, noch nicht dem Prozess des
Betrachtens. Die Formbezüge und -kontraste sind prägnant und
wirkungsvoll, aber auch einfach."3
Zur Tiersymbolik im christlich-mystischen Weltverständnis von
Marc
"Abgesehen davon, dass er ein Urbild der Natur schaffen wollte,
interessierte Marc das Reh auch als Symbol. In Anbetracht der Bedeutung,
die Rot in seinem System von Farbäquivalenzen innehat", vermerkt
Rosenthal mit Blick auf die späteren Rehdarstellungen, "sind
die Rehe vollkommen im Einklang mit der Erde, ja, eins mit ihr."4 In
diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang stellt Klaus Lankheit fest,
dass es im Werk von Franz Marc um eine "symbolische Darstellung,
ausgestattet mit moralischer Bedeutung"5 geht. "Die
Reinheit und Unschuld der Rehe soll, mit anderen Worten, daran erinnern,
wie sehr sich unsere eigene menschliche Natur von dieser unterscheidet."6 Mit
den Mitteln der Ikonographie erkundet Johannes Langner die Genese
des Reh-Motivs innerhalb von Marcs Werk: "Die Übernahme
von Posen und Kompositionsmustern aus dem Figurenbild in das Tierbild
(z.B. die drei Grazien, Familienbild) ist bei Marc immer wieder
zu beobachten."7 Mit
der Idee vom reineren Dasein des Tieres gegenüber dem Menschen
will es Marc "nicht bei einem sittenbildlichen Verständnis
bewenden lassen. Im Familienbild der Rehe soll es nicht bei der Idylle
bleiben, sondern zum kosmischen Symbol kommen."8 Franz
Marc besass selber einige Rehe, weil er für diese Tiere eine
besondere Zuneigung empfand, so dass Langner mit Blick auf ein Bild
aus dem Jahre 1914 seine visionäre Vorstellung vom Einssein
mit sich und der Welt mit folgenden Worten kommentiert: "Der
Stoff der Wirklichkeit, aus dem der Traum vom Paradies (...) gemacht
ist, (...) ist ein enger, vertrauter Umgang mit dem dargestellten Tier.
Die Sakralisierung seines Bildes ist hier zugleich die Verklärung
einer gelebten Liebe."9 "Während das Reh in Marcs Repertoire relativ konsequent als
'Typus' dargestellt wurde, setzte er das Pferd (...) flexibler
ein."10
1 Städtische Galerie
im Lenbachhaus München: Franz Marc 1880 - 1916, Ausstell.-Kat.
1980, München 1980, Abb. 21, S. 149.
2 Johannes Langner, "Symbole
auf die Altäre der kommenden geistigen Religion": Zur Sakralisierung
des Tierbildes bei Franz Marc, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen
in Baden-Württemberg, 18, 1981, S. 83.
3 Erich Franz, Franz
Marc: Konstruktionen der Verwandlung, in: Franz Marc: Kräfte der
Natur - Werke 1912 - 1915, Hg.: Erich Franz im Auftrag des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe Westfälisches Landesmuseum, Ausstell.-Kat. Staatsgalerie
moderner Kunst München, Ostfildern 1993, S. 23.
4 Mark Rosenthal, Franz
Marc, München 1992, S. 30.
5 Klaus Lankheit, Franz
Marc: Unteilbares Sein, Aquarelle und Zeichnungen, Köln 1959, S.22.
6 Rosenthal, a.a.O.,
S. 30.
7 Johannes Langner, a.a.O.,
S. 85.
8 Ebd., S. 90.
9 Ebd., S. 98.
10 Ebd., S. 30.
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